\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Wien,} 6.~April 1933]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 6. April 1933}{April 1933}\labelcn{1933-04-06-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber C\ekl{arnap!}} \haupttext{Ich billige durchaus, daß Du erwiderst. Wie lange wird denn unsere Stimme noch ertönen?\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(zum MS für Monisten)}}.} Deine Einleitung vielleicht etwas matt für die Leser. Anfang etwa: Der Kampf gegen Theologie und Metaphysik bisher meist so: Behauptung gegen Behauptung. Aber wir haben neue Mittel der Kritik: Nachweis, daß viele Behauptungen nicht besser sind als ein Gebabbel: ,,Tursto Kapsti Mi``. Wenn die anderen mit solchen Sätzen operieren und wir darauf erwidern, ists, als ob der eine den Bock melkt und wir das Sieb unterhalten. Man zeige auf, wo Böcke gemolken werden! Aber diese neue bedeutsame Kampfweise wird oft mißverstanden. Und nun nimm den L\ekl{ossa}\IN{\linkepaul} und sein ödes Geschwätz vor. Er hat freilich eine unerquickliche Stelle bei Dir erwischt und Du tust gut, darauf mit der Generalerklärung zu erwidern. Aber Du \gesperrt{mußt} Hahns\IN{\hahnhans} Occam\IW{\hahnoccam} besprechen. Du mußt die Grundtendenz aufzeigen und das Zitat im Zusammenhang vorführen. Dies Ausweichen ist zu peinlich, da doch der Artikel\IW{\lossapseudo} damit beginnt.\fnE{Lossa (Pseudonym für: Paul F. Linke), ,,Pseudofreigeistige Philosophie``; kritisiert wird dort vor allem -- u.\,a. in Bezugnahme auf Carnap, \textit{Scheinprobleme in der Philosophie} -- die Klassifizierung vor allem von religiösen Sätzen als kognitiv sinnlos. Nach Meinung des Autors ist dies nichts anderes als die Anerkennung des friedlichen Nebeneinanders von Wissen und Glauben, die erforderliche echte Auseinandersetzung mit ,,unwissenschaftlichen`` Weltanschauungen wird damit vermieden.} Daß die Formulierungen bei Hahn\IN{\hahnhans} mir oft zu verbindlich und zu wenig aggressiv klingen, so tapfer er selbst ist, weißt Du. Und daß ich gerade jetzt mich wenig über seine parapsychischen ,,Forschungen`` freue, kannst Du Dir auch denken.\fnE{Vgl. dazu oben, Brief Nr. \refcn{Olga-Neurath-an-Carnap-1933-02-17}.} \gesperrt{Dringend} rate ich ab, Wittgenstein\IN{\wittgenstein} zu nennen, \gesperrt{ohne ihn als Metaphysiker} zu charakterisieren. Ich habe nun schon zweimal ihn angenagelt\fnEE{Vgl. Neurath, ,,Soziologie im Physikalismus``, 395--397\,/\,GphmS 535f., sowie \textit{Einheitswissenschaft und Psychologie}, Anm.~2. (GphmS 588f.).} und halte es für unsere Pflicht, seine Autorität bei der Jugend \gesperrt{nicht} zu stärken. Auch Schlick\IN{\schlick} werde ich in Hinkunft entweder gar nicht oder mit Einschränkung zitieren. Er ist offenbar Metaphysiker. Neider\IN{\neider} wird Dir das generell und spe\neueseite{} ziell mit weniger Ressentiment als ich darlegen. Er hängt an den ,,Erlebnissen``, wenn auch formal ausweichender als Waismann\IN{\waismann}. Bisher hatte ich mehr die Neigung, um der Gemeinschaft willen die positiven Seiten zu betonen und die Kritik beiseite zu lassen. \gesperrt{Aber} ich habe jetzt erlebt, wie sehr ich bereue, daß ich die marxistischen Mängel \gesperrt{nicht} betonte, sondern so wie Frank\IN{\frankphilipp} bemüht war, das Gemeinsame herauszusuchen. Man sieht, \gesperrt{wie schwach} die Fundierung im einzelnen war. Wir müssen neu aufbauen, dazu ist Sacharbeit nötig und vielfältige Ablehnung marxistischer Oberflächlichkeit. Die Jugend ist, wie ich sehe, infolge der verzweifelten Stimmung bereit, am Neubau zu arbeiten. Es ist nicht gut, einer Gruppe von Denkern mehr Autorität zu sichern, als man billigt, nur damit man die Einheit wahrt. Im Bereich der reinen Wissenschaft -- wenn es so etwas gibt, was man so nennen will -- am wenigsten, aber selbst dort, wo die Wissenschaft unmittelbar dem Leben dient, halte ichs für gefährlich. Wir können handelnd nicht aufhalten, was getan wird gegen unsere Meinung, und haben die Autorität der Handelnden durch Nichtkritik gestärkt, im Vertrauen, sie würden so handeln, wie es uns zusagt. So daß ich meine, wenn nicht ganz besondere Momente vorliegen, daß\fnA{Hsl. Einschub.} der Wissenschafter immer seine Anschauung ruhig vertreten soll. Z.\,B. Kritik an Schlick\IN{\schlick}, an Waismann\IN{\waismann}, an Wittgenstein\IN{\wittgenstein}, \gesperrt{wie wir sie unter uns so oft äußern}. Schlick\IN{\schlick} ist ein sozial nicht ungefährlicher Faktor im Rahmen der Schulwirkung. ,,Privat`` wirkt man entgegen, warum nicht auch öffentlich? Pflicht. Harte Pflicht. Bitte schick mir den ,,Aufruf``\II{\aufruf}. Hier krieg ich das sehr schwer. Es ist grauenhaft zu sehn, wie beide Arbeiter\neueseite{} parteien für sich und beide zusammen historisch versagt haben. Was soll demgegenüber ,,Schuld`` besagen. Und wie vieles habe ich den Politikern geglaubt, weil sie Fachleute seien. Und ich sehe, daß sie von Politik \gesperrt{sicher} weniger verstehen als ich z.\,B. von Bildstatistik, um eine praktische Sache zu erwähnen, obgleich sie wesentlich bestimmter redeten. Es ist scheußlich, wie man beeinflußt wurde, Dinge anzunehmen, die man nicht überprüfen konnte. ,,Dies wird geschehen, wenn \ldots`` oder ,,Wir können mit Bestimmtheit sagen, daß \ldots`` Und nun ist alles, wie sich zeigt, seit langem anders. Sie sagten anderes, als sie meinten usw. usw. Und die Tatsache, daß Abertausende sich enttäuscht nicht nur in schlechter Lage fühlen, zeigt, daß das Werkzeug des Wortes mißbraucht wurde. Ich glaube, daß die wahren Worte \gesperrt{wichtig} sind, organisatorisch! Und ich nehme mir vor, sehr gewissenhaft nicht nur in dem zu sein, was ich behaupte und an anderen bejahe, sondern auch in meiner Kritik. Wenn ich an jemandem, den ich im ganzen billige, etwas zu Negierendes sehe, werde ich das in Hinkunft freimütiger äußern als bisher, solange noch überhaupt etwas geäußert werden kann. Aber man wird auch das Positive vielleicht manchmal schärfer bekennen müssen. Auch ich werde gerne mit Dir sprechen. Ich konnte Dich damals nicht verständigen, da alles sich schnell entschied. Telegramm aus Wien vermeide ich, wenn es nicht nötig ist. Aber vielleicht könnt Ihr doch einen Vortrag für mich arrangieren. Ich würde kommen, auch wenn nur die Reise hin und her dabei herauskommt. Ich wollte in Prag selbst telegraphieren, aber Frank\IN{\frankphilipp} meinte, das käme zu spät. Ich hatte ja nur Stunden. Am Montag mußte ich in Wien sein, \neueseite{}\zzz weil im Gomperz-Zirkel\II{\gomperzzirkel} mein Buch\IW{\neuratheinheitswissenschaftbuch}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(Broschüre Psychologie)}}.} besprochen wurde.\fnEE{Dabei muss es sich um Neurath, \textit{Einheitswissenschaft und Psychologie}, handeln, Neuraths \textit{Empirische Soziologie} wurde im Gomperz-Zirkel schon früher diskutiert.} Brunswik\fnA{\original{Brunswig}}\IN{\brunswik} referierte. Referat und Aussprache waren\fnA{\original{war}} geradezu niederschmetternd, Gomperz\IN{\gomperz} fand unser Bemühen: Mönchsgezänk, und Brunswik\fnA{\original{Brunswig}}\IN{\brunswik} trat dafür ein, daß er sagen dürfe, wenn er in der Kirche war, er habe ,,Gott erlebt``. Bühlers\IN{\buehlerkarl} Auslese wurde nicht schlimm gefunden. Alle waren sehr milde gegen die anderen, nur Neider\IN{\neider} absolut unentwegt auf unserer Seite. Kraft\IN{\kraftvictor} matt, auch Bernfeld\IN{\bernfeld}. Bei allem hieß es, das sei ja stilistisch nicht sehr erfreulich, aber \ldots\ usw. usw. Oh Carnap\incarnap{}, es ist schwer zu sein ein Mensch. Von den Greueln der Verwüstung wollen wir nicht sprechen. \gesperrt{Alle} meine Freunde entweder still gesetzt oder entlassen oder verhaftet oder geflohen. Franz\IN{\rohfranz}\fnE{Franz Roh.} war in Haft, nur durch Intervention der Frau\IN{\rohhilde} befreit, sein Freund T\ekl{schichold}\IN{\tschichold}\fnE{Möglicherweise ist hier Jan Tschichold gemeint.} noch in Haft,\fnEE{Roh und Tschichold wurden unmittelbar nach der nationalsozialistischen ,,Machtergreifung`` als ,,Kulturbolschewisten`` verhaftet und vorübergehend in Dachau interniert.} meldete sich selbst, um seine Frau\IN{\tschicholdfrau} los zu kriegen, die man um dieses Druckes willen verhaftet hatte. Ein junger Freund wahrscheinlich in schlimmster Lage, andere verschwunden. Not. Elend. Bert Brecht\IN{\brecht} war bei mir, Brentano\IN{\brentanobernard}\fnEE{Vermutlich: Bernard von Brentano, der 1933 in die Schweiz emigrierte.} und andere. Alles auf der Durchreise. Wir sammeln Geld. Und doch: weiterarbeiten. Man weiß, wo man steht -- und fällt. Gruß von beiden an beide Herzlichst} \grussformel{Dein\\O} \briefanhang{NB. Du würdest mir einen Freundschaftsdienst erweisen, wenn Du aus Deiner Kartothek meine Korrespondenz entnehmen würdest, um sie fein säuberlich zu vernichten. Alles ist jetzt lästig, was da ist. Die Zensur liest Briefe auch gegen das Gesetz. Ich schreibe, was ich auch öffentlich sage. Aber wozu soll man da ganze Biographien zur Verfügung haben?}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828525}{RC 029-11-18}; Briefkopf: msl. \original{In Eile. Donnerstag}, hsl. \original{6.\,4.\,33}.}