Ich billige durchaus, daß Du erwiderst. Wie lange wird denn unsere Stimme noch ertönen?aKsl. (zum MS für Monisten).
Deine Einleitung vielleicht etwas matt für die Leser. Anfang etwa: Der Kampf gegen Theologie und Metaphysik bisher meist so: Behauptung gegen Behauptung. Aber wir haben neue Mittel der Kritik: Nachweis, daß viele Behauptungen nicht besser sind als ein Gebabbel: „Tursto Kapsti Mi“. Wenn die anderen mit solchen Sätzen operieren und wir darauf erwidern, ists, als ob der eine den Bock melkt und wir das Sieb unterhalten. Man zeige auf, wo Böcke gemolken werden! Aber diese neue bedeutsame Kampfweise wird oft mißverstanden. Und nun nimm den LossaPLinke, Paul Ferdinand, 1876–1955, dt. Philosoph, Pseudonym Lossa und sein ödes Geschwätz vor.
Er hat freilich eine unerquickliche Stelle bei Dir erwischt und Du tust gut, darauf mit der Generalerklärung zu erwidern. Aber Du mußt HahnsPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn OccamBHahn, Hans!1930@Überflüssige Wesenheiten. Occams Rasiermesser, Wien, 1930 besprechen. Du mußt die Grundtendenz aufzeigen und das Zitat im Zusammenhang vorführen. Dies Ausweichen ist zu peinlich, da doch der ArtikelBLinke, Paul F., Pseudonym Lossa!Pseudofreigeistige Philosophie damit beginnt.1Lossa (Pseudonym für: Paul F. Linke), „Pseudofreigeistige Philosophie“; kritisiert wird dort vor allem – u. a. in Bezugnahme auf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie– die Klassifizierung vor allem von religiösen Sätzen als kognitiv sinnlos. Nach Meinung des Autors ist dies nichts anderes als die Anerkennung des friedlichen Nebeneinanders von Wissen und Glauben, die erforderliche echte Auseinandersetzung mit „unwissenschaftlichen“ Weltanschauungen wird damit vermieden. Daß die Formulierungen bei HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn mir oft zu verbindlich und zu wenig aggressiv klingen, so tapfer er selbst ist, weißt Du. Und daß ich gerade jetzt mich wenig über seine parapsychischen „Forschungen“ freue, kannst Du Dir auch denken.2Vgl. dazu oben, Brief Nr. .
Dringend rate ich ab, WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph zu nennen, ohne ihn als Metaphysiker zu charakterisieren. Ich habe nun schon zweimal ihn angenagelt und halte es für unsere Pflicht, seine Autorität bei der Jugend nicht zu stärken. Auch SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick werde ich in Hinkunft entweder gar nicht oder mit Einschränkung zitieren. Er ist offenbar Metaphysiker. NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger wird Dir das generell und spe🕮 ziell mit weniger Ressentiment als ich darlegen. Er hängt an den „Erlebnissen“, wenn auch formal ausweichender als WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann.
Bisher hatte ich mehr die Neigung, um der Gemeinschaft willen die positiven Seiten zu betonen und die Kritik beiseite zu lassen. Aber ich habe jetzt erlebt, wie sehr ich bereue, daß ich die marxistischen Mängel nicht betonte, sondern so wie FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank bemüht war, das Gemeinsame herauszusuchen. Man sieht, wie schwach die Fundierung im einzelnen war. Wir müssen neu aufbauen, dazu ist Sacharbeit nötig und vielfältige Ablehnung marxistischer Oberflächlichkeit. Die Jugend ist, wie ich sehe, infolge der verzweifelten Stimmung bereit, am Neubau zu arbeiten. Es ist nicht gut, einer Gruppe von Denkern mehr Autorität zu sichern, als man billigt, nur damit man die Einheit wahrt. Im Bereich der reinen Wissenschaft – wenn es so etwas gibt, was man so nennen will – am wenigsten, aber selbst dort, wo die Wissenschaft unmittelbar dem Leben dient, halte ichs für gefährlich. Wir können handelnd nicht aufhalten, was getan wird gegen unsere Meinung, und haben die Autorität der Handelnden durch Nichtkritik gestärkt, im Vertrauen, sie würden so handeln, wie es uns zusagt. So daß ich meine, wenn nicht ganz besondere Momente vorliegen, daßaHsl. Einschub. der Wissenschafter immer seine Anschauung ruhig vertreten soll. Z. B. Kritik an SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, an WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, an WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph, wie wir sie unter uns so oft äußern. SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick ist ein sozial nicht ungefährlicher Faktor im Rahmen der Schulwirkung. „Privat“ wirkt man entgegen, warum nicht auch öffentlich? Pflicht. Harte Pflicht.
Bitte schick mir den „Aufruf“IZeitschrift „Aufruf“ der tschechoslowakischen Liga für Menschenrechte. Hier krieg ich das sehr schwer. Es ist grauenhaft zu sehn, wie beide Arbeiter🕮 parteien für sich und beide zusammen historisch versagt haben. Was soll demgegenüber „Schuld“ besagen. Und wie vieles habe ich den Politikern geglaubt, weil sie Fachleute seien. Und ich sehe, daß sie von Politik sicher weniger verstehen als ich z. B. von Bildstatistik, um eine praktische Sache zu erwähnen, obgleich sie wesentlich bestimmter redeten. Es ist scheußlich, wie man beeinflußt wurde, Dinge anzunehmen, die man nicht überprüfen konnte. „Dies wird geschehen, wenn …“ oder „Wir können mit Bestimmtheit sagen, daß …“ Und nun ist alles, wie sich zeigt, seit langem anders. Sie sagten anderes, als sie meinten usw. usw. Und die Tatsache, daß Abertausende sich enttäuscht nicht nur in schlechter Lage fühlen, zeigt, daß das Werkzeug des Wortes mißbraucht wurde. Ich glaube, daß die wahren Worte wichtig sind, organisatorisch! Und ich nehme mir vor, sehr gewissenhaft nicht nur in dem zu sein, was ich behaupte und an anderen bejahe, sondern auch in meiner Kritik. Wenn ich an jemandem, den ich im ganzen billige, etwas zu Negierendes sehe, werde ich das in Hinkunft freimütiger äußern als bisher, solange noch überhaupt etwas geäußert werden kann. Aber man wird auch das Positive vielleicht manchmal schärfer bekennen müssen.
Auch ich werde gerne mit Dir sprechen. Ich konnte Dich damals nicht verständigen, da alles sich schnell entschied. Telegramm aus Wien vermeide ich, wenn es nicht nötig ist. Aber vielleicht könnt Ihr doch einen Vortrag für mich arrangieren. Ich würde kommen, auch wenn nur die Reise hin und her dabei herauskommt. Ich wollte in Prag selbst telegraphieren, aber FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank meinte, das käme zu spät. Ich hatte ja nur Stunden. Am Montag mußte ich in Wien sein, 🕮{}weil im Gomperz-ZirkelIGomperz-Zirkel oder -Kreis mein BuchBNeurath, Otto!1933@„Einheitswissenschaft und Psychologie“, = Einheitswissenschaft 1, 1933bKsl. (Broschüre Psychologie). besprochen wurde. BrunswikbBrunswigPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-Brunswik referierte. Referat und Aussprache warencwar geradezu niederschmetternd, GomperzPGomperz, Heinrich, 1873–1942, öst.-am. Philosoph, verh. mit Adele Gomperz fand unser Bemühen: Mönchsgezänk, und BrunswikdBrunswigPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-Brunswik trat dafür ein, daß er sagen dürfe, wenn er in der Kirche war, er habe „Gott erlebt“. BühlersPBühler, Karl, 1879–1963, dt.-am. Psychologe, verh. mit Charlotte Bühler Auslese wurde nicht schlimm gefunden. Alle waren sehr milde gegen die anderen, nur NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger absolut unentwegt auf unserer Seite. KraftPKraft, Victor, 1880–1975, öst. Philosoph matt, auch BernfeldPBernfeld, Siegfried, 1892–1953, öst.-am. Psychoanalytiker und Pädagoge. Bei allem hieß es, das sei ja stilistisch nicht sehr erfreulich, aber …usw. usw. Oh Carnap, es ist schwer zu sein ein Mensch.
Von den Greueln der Verwüstung wollen wir nicht sprechen. Alle meine Freunde entweder still gesetzt oder entlassen oder verhaftet oder geflohen. FranzPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh3Franz Roh. war in Haft, nur durch Intervention der FrauPRoh, Hildegard (Hilde), 1890–1945, geb. Heintze, Krankengymnastin, verh. mit Franz Roh befreit, sein Freund TschicholdPTschichold, Jan, 1902–1974, dt.-schweiz. Typograf, verh. mit Edith Tschichold4Möglicherweise ist hier Jan Tschichold gemeint. noch in Haft‚ meldete sich selbst, um seine FrauPTschichold, Edith, 1905–1981, verh. mit Jan Tschichold los zu kriegen, die man um dieses Druckes willen verhaftet hatte. Ein junger Freund wahrscheinlich in schlimmster Lage, andere verschwunden. Not. Elend. Bert BrechtPBrecht, Bertolt, 1898–1956, dt. Schriftsteller war bei mir, BrentanoPBrentano, Bernard von, 1901–1964, dt. Schriftsteller und andere. Alles auf der Durchreise. Wir sammeln Geld. Und doch: weiterarbeiten. Man weiß, wo man steht – und fällt.
Gruß von beiden an beide
Herzlichst