\brief[Neurath an Carnap, Wien, 13.~März 1933]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 13. März 1933}{März 1933}\labelcn{1933-03-13-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Vielen Dank für den Brief. Ich gebe also Hans Hahn\IN{\hahnhans}\IW{\hahnlmn} zum Druck. Hoffentlich kann es noch erscheinen. Es geht hier schon recht bedenklich zu. Heute Kommunistenrazzia, Notverordnung nach Notverordnung \ldots Ich hoffe, daß die Prager, bei denen wir die Nebenstelle einrichten, mich wieder zu einem Vortrag einladen, wenn Ihr nicht was mit mir vorhabt. So hoffe ich Euch alle doch noch zu sehn, ehe die vielleicht länger dauernde Trennung einsetzt. Nach der deutschen Revolution\fnAmargin{\original{Hsl. \textsp{(1919)}}.} habe ich meine deutschen Freunde sechs Jahre lang nicht gesehn \ldots\fnE{Vgl. dazu oben, Brief Nr. \refcn{1923-10-19-Neurath-an-Carnap} und dort Anm. \refcn{1923-10-19-Neurath-an-Carnap-Einreiseverbot}.} Das ist eine lange Zeit. Sie geht vorüber. Aber wir werden älter und die Jahre gewinnen an Bedeutung. Ich war froh, daß ich in Berlin noch mit einigen Freunden, wenn auch flüchtig, zusammen war, sprach noch Bürgermeister Herz\IN{\herzcarl}, den sie eben verhaftet haben, und seine Frau\IN{\herzelse}\ldots\ Wenn ich mich an damals erinnere, wie viele von denen, die ich kannte, wurden getötet? Rathenau\IN{\rathenau}, Landauer\IN{\landauergustav} usw. Jetzt Landgraf\IN{\landgraf} in Chemnitz, ein Sozialdemokrat.\fnSE{Carl Herz war Bezirks-Bürgermeister in Berlin-Kreuzberg. Der wie Neurath an der Münchener Räterepublik beteiligte Gustav Landauer wurde 1919 ermordet, der damalige deutsche Außenminister Walther Rathenau 1922; Georg Landgraf wurde am 9.~März 1933 Opfer des nationalsozialistischen Terrors.} Die vier apokalyptischen Reiter sind in voller Form \ldots Hier lebt man in Spannung von Tag zu Tag, wenigstens nicht so völlig jeder Gewalt ausgesetzt wie drüben, aber immerhin einer starken Gewalt, die über den legalen Apparat verfügt. Es ist alles entsetzlich und nur schwer hält man sich durch die Hoffnung aufrecht, die uns der Glaube an den Gesamtverlauf der Geschichte gibt. Jetzt habe ich so vielerlei gesehn: USA. England, Schweiz, wo der Faschismus sich entwickelt \ldots\ Es ist ein Glück, daß unsere Nebenstelle\II{\mundaneum} in Amsterdam arbeitet, daß wir eine Korrespondenzstelle in London haben, sonst wären wir seit der Stillegung der Nebenstelle Berlin ganz zusammengepreßt. \neueseite Am Freitag war Zirkel\II{\schlickzirkel}. Über Protokollsätze. Schlick\IN{\schlick} war ungehörig, begann schon hochmütig, daß ihn das Ganze gar nicht interessiere und so. Waismann\IN{\waismann} in seiner Art. Also, sie wollen halt die instantanen Erlebnisse haben, mit ,,Jetzt`` und ,,Hier`` -- sie bestreiten das Recht, derlei durch Koordinaten bestimmen zu wollen. Als von der ,,endgiltigen`` Erlebnisfeststellung gesprochen wurde, meinte ich, entweder Satz oder Nichtsatz, wenn Satz, dann wahr oder falsch und nicht unbedingt ,,endgiltig``, wenn aber kein Satz, dann weiß ich nicht was ,,endgiltig`` bedeutet? Kann ein Ziegel endgiltig sein?\ldots\ Es war wenig ertragreich, wenig erfreulich. Auf dem Nachhauseweg zeigte sich, daß uns Waismann\IN{\waismann} verachtet, Du schriebest jetzt so flach und seist gesunken. Neider\IN{\neider} meinte darauf, ja die Metaphysiker seien immer die Subtileren, das sei bekannt, wer die Wissenschaft vertrete, der könne sich gröbere Fassungen leisten \ldots\ Sie erklären übrigens, daß sie nicht die wissenschaftliche Sprache analysieren, da hätten wir recht, sondern die Alltagssprache, was sie meine, was sie bedeute, und da hätten sie recht. Hans Hahn\IN{\hahnhans} erklärte, nicht zu verstehen, was das heiße, man sei einmal so, einmal so geartet, da doch Wissenschaft und Alltag nicht zu trennen seien. Na ja. Ich fürchte, daß die einheitswissenschaftliche Gruppe den Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} wird repräsentieren müssen, wie der dritte Stand allein sich zum Repräsentanten der Nation erklärte. Es ist übrigens bemerkenswert, daß Springer\IN{\springerjulius} mir keinen Brief wegen der Sammlung\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} geschrieben hat, obgleich das doch das Naheliegendste gewesen wäre. Es wäre mir lieb, von Euch zu hören, wie Ihr das erklärt. Daß Ihr beide gleichlautend Euren Standpunkt kund getan habt, ist sehr erfreulich. Also, es geht weiter \ldots\ Noch sind nicht alle Märzen \neueseite{}\zzz vorbei, neunzehnhundert dreißig und drei!\fnEE{Eine Anspielung auf Georg Herweghs Gedicht ,,Achtzehnter März``, das die Revolution von 1848 thematisiert und mit den Zeilen endet: ,,Noch sind nicht alle Märzen vorbei,\,/\,Achtzehnhundert siebzig und drei``.} Die Krise und die Weltlage macht uns große Sorgen. Das Schicksal der Arbeiterklasse, der Partei, der Individuen, des Museums\II{\museumneurath}, tausend Gründe zur Sorge \ldots Ich bitte Dich, gib Philipp Frank\IN{\frankphilipp}, man kann nie wissen, wozu es gut ist, die Adresse des Mundaneummitgliedes: Direktor der IRI\II{\iri}\fnEE{\textit{International Industrial Relations Institute}.} Miss M. L. \gesperrt{Fleddérus}\IN{\froede}. Holland. Haag 232 Badhuisweg. Sie ist sehr zuverlässig. Eine treue Förderin unserer Arbeit. Sie hat vor allem meine Reise nach USA betrieben. Schwere Zeiten. Ganz schwere Zeiten. Und was wird aus dem Physikalismus? Wann wird der Unterbau zu diesem Überbau hinzukommen? Wann? \ldots Leb wohl! Seid beide gegrüßt von uns beiden} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828527}{RC 029-11-20}; Briefkopf: msl. \original{Wien. 13.~März} ergänzt durch hsl. \original{1933}.}