Olga Neurath an Carnap, Wien, 17. Februar 1933 Olga Neurath an Rudolf Carnap, 17. Februar 1933 Februar 1933

Lieber Carnap!

Ein Brief von Dir ist ein seltenes Fest, umsomehr, wenn er zwei so wichtige Daten aus Deiner Biographie enthält wie diesesmal. Ad Eins bin ich sehr erfreut, daß die Prager Ärzte mit Deinem Gesundheitszustand zufrieden sind. Ich hörte schon von meinem BruderPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn&von WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, daß Du Dich gut erholst, aber eine ärztliche Bestätigung dieser zunächst nur subjektiven Diagnose ist natürlich weit beruhigender. Der arme MengerPMenger, Karl, 1902–1985, öst.-am. Mathematiker, verh. mit Hilda Menger ist seine Grippe, von der die Deinige meiner Meinung nach ein Abkömmling war, nicht so glatt losgeworden, er erkrankte abermals in Warschau, kam noch hustend nach Wien zurück, fuhr dann zur Erholung auf den Semmering, wo er abermals erkrankte. Jetzt endlich scheint auch er die üble Sache erledigt zu haben. Also, man freue sich, daß es bei Dir doch relativ glatt ging &das Übrige nur ein blinder Alarm war.

Ad Zwei wünsche ich noch alles Gute zum liebseligen Ehestand, es ist natürlich nur eine Formalität, aber besagte bürgerliche Formalität erleichtert in der leider immer noch sehr bürgerlichen Welt doch die Existenz erheblich.

Was Dein ManuskriptB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 anlangt, so muß ich Dir die betrübliche Mitteilung machen, daß ich es Dir persönlich ins Spital brachte, nachdem mein Mann nach Amerika abge🕮 reist war. Vielleicht erinnerst Du Dich daran, daß Du ursprünglich vorgeschlagen hattest, er solle es unterwegs lesen &es Dir aus Cherbourg zurück­schicken. Er aber fand das zu riskant, las es noch in Wien &gab es mir zur Erledigung. Du warst dann sehr überrascht, daß er es so schnell durchgesehen hatte &stelltest noch ein paar Fragen an mich. Hoffentlich ist es nicht in der unvermeidlichen Spitalschlamperei verkommen. Jedenfalls wurde es Dir zurückgestellt.

Was nun endlich die Recriminationen des Verlages SpringerISpringer Verlag anlangt, so sind sie nicht berechtigt. Die neue SammlungIEinheitswissenschaft, Schriftenreihe wendet sich an ein ganz anderes Publikum als die SpringerschenISpringer Verlag Bücher, welche ja eigentlich einen akademisch gebildeten Leserkreis fordern, während die „Einheitswissenschaft“IEinheitswissenschaft, Schriftenreihe ganz populär gehalten ist, für kleine Leutchen, die noch nichts Rechtes gelernt haben. Mein Mann meint, seine SammlungIEinheitswissenschaft, Schriftenreihe werde eher der SpringerschenISpringer Verlag neue Leser zuführen als ihr welche wegschnappen, umsomehr als ja die SpringerschenISpringer Verlag Bücher brav zitiert werden. Außerdem handelt es sich in dem einen Fall durchweg nur um dünne Broschüren, die ja bekanntlich einem würdigen Buch niemals Konkurrenz machen können.

Was uns anlangt, so erfreue ich mich momentan der Anwesenheit des Gatten, aber morgen fährt er wahrscheinlich schon wieder weg, nach Berlin, um dort im ReichenbachkreisIReichenbachs Kolloquiums einen VortragB zu halten‚1Am 21. Februar hielt Neurath in der Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie den Vortrag „Grundprobleme des Physikalismus“; vgl. Erkenntnis 3, 1932/33, 232.1„Grundprobleme des Physikalismus“, 21. Februar 1933, Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie. falls man ihn nicht vorher totschlägt, was bei dem jetzigen Kurs nicht so unmöglich 🕮{}scheint. ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph wird übrigens für nächste Woche hier in Wien erwartet, er soll einen VortragB im CulturbundIKulturbund Wien halten &wird auch einmal im SchlickkreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis auftreten.2Vgl. dazu unten, Brief Nr. . Anfang März reist dann mein Mann nach London, später wahrscheinlich wieder einmal nach Moskau. Ich muß froh sein, wenn ich ihn einmal eine Woche hier habe. Von Amerika ist er begeistert, d. h. nicht etwa von der dort herrschenden Krise‚ sondern von der Aufnahme, die ihm dort zuteil wurde. Als schlichter Bildstatistiker zog er aus &kam als berühmter Mann zurück, er heißt dort der Prophet der Weltplanung.

Daß GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker sich habilitiert hat, wird Dir vielleicht schon bekannt sein, es ist alles ganz glatt verlaufen &die Habilitation wurde einstimmig im Collegium genehmigt. Es hat viel für sich, wenn man arischer Abstammung ist. Es wird Dich vielleicht auch interessieren, daß mein BruderPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn über Aufforderung von Heinz HartmannPHartmann, Heinz, 1894–1970, öst.-am. Arzt und Psychoanalytiker im Sommer an irgendeinem PsychologenkongreßI ein Referat über ParapsychologieB halten wird. ThirringPThirring, Hans, 1888–1976, öst. Physiker hat das erste ReferatB, mein BruderPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn das zweite. Er hat sich schon geraume Zeit mit dieser Materie nicht mehr beschäftigt, aber nun kehrt er nicht ungern wieder zu dieser alten Liebe zurück.

Nun lebe wohl &pflege Deine Gesundheit. Viele Grüße Dir &Deiner FrauPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap von dem Propheten&Deiner

Olga

Brief, Dsl., RC 029-11-23, Briefkopf: msl. Wien, 17.2. ergänzt durch hsl. 33; das Datum ganz oben nochmals hsl.


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