Rudolf Carnap an Kazimierz Ajdukiewicz, 23. Jänner 1933 Jänner 1933

Sehr geehrter Herr Kollege!

Ich habe jetzt Ihr außerordentlich interessantes ManuskriptBAjdukiewicz!Der radikale Konventionalismus. MS 1933 für Erkenntnis mit lebhaftestem Interesse gelesen. Zweifellos wird auch Herr ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach der Annahme zustimmen, da die Arbeit für unsre Zeitschrift einen sehr wertvollen Beitrag bilden wird. Mich persönlich interessieren Ihre Untersuchungen um so mehr, da ich mich gerade mit den Problemen der log[ischen] Syntax der SpracheB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 beschäftige, sowie mit dem damit zusammenhängenden Problem des „Sinns“.

Ich glaube, daß gegen die unzertrennte Veröffentlichung Ihrer ArbeitBAjdukiewicz!Der radikale Konventionalismus. MS 1933 für Erkenntnis in der „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift allerdings Bedenken bestehen, die Sie selbst ja auch schon andeuten. Ich werde noch einmal die Frage mit Herrn ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach erörtern, glaube aber, daß eine Trennung unvermeidlich sein wird. Mir scheint auch, daß die von Ihnen vorgeschlagene Zerlegung in [I, II] und [III] dem Inhalt dieser Abschnitte nach gut durchführbar ist. Ich möchte Ihnen vorschlagen, die beiden Teile dann nicht als Teile zu bezeichnen, sondern mit selbständigen Titeln zu versehen (z. B. „Sprache und Sinn“ und „Der radikale Konventionalismus“); in dem zweiten Aufsatz, der im unmittelbar folgenden Heft erscheinen würde, könnten Sie ja zu Beginn auf den ersten Aufsatz hinweisen und sagen, daß Sie dessen Überlegungen hier als bekannt voraussetzen.

Ich habe mir erlaubt, an einigen Stellen mit Bleistift kleine sprachliche Korrekturen vorzunehmen, und nehme an, daß Sie damit einverstanden sind.

Vielleicht darf ich noch auf einige kleine Punkte hinweisen, wo mir Ergänzungen oder Änderungen zweckmäßig erscheinen würden; diese könnten z. B. bei der Korrektur eingefügt werden, was aber selbstverständlich ganz Ihrem Ermessen überlassen bleibt.

S. 18, Anm. 1. Anstatt „der ausgesprochen haben soll: ‚…“‘ vielleicht lieber etwa so: „…Ansicht, daß der Sinn eines Satzes in s[einem] Wahrh[eits]krit[erium] liegt“. Die angeführten Worte sind nämlich kein wörtliches Zitat aus Wittgenstein.

S. 19 und später. Anstatt „Bereich – Gegenbereich“ ist jetzt bei uns üblicher: „Vorbereich – Nachbereich“.

S. 23, Anm., letzte Zeile. Der Terminus „Ancestral-Def.“ ist bei uns nicht bekannt; vielleicht „rekursive Def.“ (oder „induktive Def.“ ?).

S. 51, Zeile 2. Der Terminus „ethnische Sprache“ wird den meisten Lesern fremd sein; vielleicht „natürliche Spr[ache]“ oder beim ersten Vorkommen „ethnische oder natürl[iche] Spr[ache]“

S. 69. Es wird dem Leser nicht ganz klar sein, wogegen sich Ihre Ablehnung der „Universalität“ richtet. Da ich in meinem Aufsatz über die physikal[ische] Sprache von deren Universalität gesprochen habe, wird der Leser vermuten, daß Sie sich gegen diese These richten wollen. Ich vermute, daß das nicht der Fall ist, da meine These der Universalsprache sich nicht im Widerspruch zu Ihrer Auffassung befin🕮det, da sie (meine These) von Einer Sprache auf Grund Einer bestimmten Begriffsapparatur handelt. Ich bin freilich nicht sicher, ob hier nicht vielleicht doch Differenzen bestehen. Jedenfalls wäre es vielleicht zweckmäßig, wenn Sie deutlicher sagen würden, gegen welche Auffassung Sie sich hier wenden.

In einem bestimmten, nicht unwesentlichen Punkt halte ich Ihre Definitionen nicht für zweckmäßig: ich glaube nämlich, daß Ihre Definition für „Sinn“ in einer bestimmten Hinsicht vom üblichen Sprachgebrauch wesentlich abweicht. Ihr Begriff „sinngleich“ scheint mir zu eng. Ich stimme Ihnen zu, daß er enger genommen werden muß als „äquivalent“. Aber ich meine, daß Ausdrücke, die mit Hilfe von Definitionen (in diesem Punkte geben Sie selbst S. 35 Ihre Bedenken an) oder auch von log[ischen] Grundformeln (Ihren „Axiomen“) und Schlußregeln ineinander umgeformt werden können, als „sinngleich“ bezeichnet werden müssen, wenn wir uns nicht vom üblichen Sprachgebrauch in wesentlichen Punkten entfernen wollen. Hiermit hängen auch gewisse Ihrer Begriffe, die sich auf zwei Sprachen beziehen, zusammen, z. B. die „Übersetzbarkeit“. Ich glaube, man muß sie so definieren, daß zwei Sprachen als ineinander übersetzbar gelten, wenn sie sich z. B. nur dadurch unterscheiden, daß die eine „\(\vee \)“, die andre statt dessen „\(\supset \)“ als Grundzeichen nimmt, während der Wortlaut der Axiome und der Schlußregeln übereinstimmt; ferner auch zwei Sprachen, von den die eine andre Axiome des Satzkalküls hat als die andre, aber so, daß der Wortlaut der beweisbaren Formeln der einen mit dem Wortlaut der bew[eisbaren] F[ormeln] der andern übereinstimmt. Wenn ich Ihre Darlegungen richtig verstanden habe (ich werde sie später noch einmal genauer studieren, wozu mir im Augenblick die Zeit fehlt), so würden Sie in diesen Fällen von „unübersetzbaren Sprachen“ sprechen. Das aber ist doch wohl nicht im Einklang mit der üblichen Ausdrucks- und Auffassungsweise. Eine Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch ist sicherlich nicht unzulässig. Aber in diesem Fall scheint sie mir doch sehr unzweckmäßig zu sein, weil sich jeder Leser sagen wird: Ihre wichtigen und zum Teil überraschenden Resultate besagen gar nicht das, was sie auf den ersten Blick zu besagen scheinen, da sie auf einer Umdeutung der Wörter („sinngleich“, „Sinn“, „Übersetzung“ usw.) beruhen. Der Leser wird auch nicht imstande sein, sich Ihre Ergebnisse in seine gewohnte Terminologie zu übersetzen; dazu sind die Zusammenhänge zu kompliziert; so wird er die Ergebnisse als für ihn bedeutungslos liegen lassen. Ich kann nicht beurteilen, ob Ihnen eine Änderung der betreffenden Definitionen möglich ist, ohne daß Sie das Ganze umarbeiten müßten. Falls es aber möglich ist, so würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie sich der Mühe unterziehen würden (vorausgesetzt, daß Sie meiner Behauptung von Ihrer Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch überhaupt zustimmen). Denn es ist ja sicherlich sowohl im Interesse der Leser, als auch in Ihrem, daß die Leser den Sinn und die Tragweite Ihrer durch so scharfsinnige Überlegungen gefundenen Resultate möglichst deutlich verstehen.

Bitte teilen Sie mir kurz mit, ob Sie das ManuskriptBAjdukiewicz!Der radikale Konventionalismus. MS 1933 für Erkenntnis zum Zweck irgendwelcher Änderungen zurückgeschickt haben wollen. Falls ich bis 30. Jan. keine Nachricht bekomme, nehme ich an, daß Sie es nicht zurückwünschen, und schicke es dann direkt an ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach.

Mit vorzüglicher Hochachtung
ksl.

Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, RC 028-01-06; Briefkopf: msl. Prag, den 23. Jan. 1933  /  Herrn Prof. Kasimir Ajdukiewicz  /  Lwów.

Transkription einer Kurzschrift. RC 028-01-07. Problem: die Transkription ist manchmal sprachlich falsch. Wie korrigieren? Einstweilen mal mit [sic]; geklärt mit CD 08.19, jetzt mal so gelassen

MS Ajdukiewicz „Der radikale Konventionalismus“BAjdukiewicz!Der radikale Konventionalismus. MS 1933 für Erkenntnis

20.1.33.

Schreiben:

S. 18. Anmerkung 1 Anstatt: „der ausgesprochen haben soll: „…“ “

lieber: „…Ansicht…, daß der Sinn eines Satzes in seinen Wahrheitskritike [sic] liegt.“ Weil es nämlich kein wörtliches Zitat aus Wittgenstein ist!

S. 19 Anstatt „Bereich – Gegenbereich“ ist jetzt üblich: „Vorbereich – Nachbereich“.

S. 23, Anmerkung, letzte Zeile. „[unleserlich] Definition“ ist bei uns unbekannt. Vielleicht „rekursive Definition“ (oder „induktive Definition“)?

S. 51, Zeile 2. Vielleicht „[identische]Transkriptionsregeln anders als Editionsrichtlinien bei uns oder natürliche Sprache“.

S. [69] Ablehnung der Universalität. Nicht ganz klar, wogegen sich dies wendet. Meine These der „universalen Sprache“ meint doch nur: eine Sprache auf Grund einer bestimmten Begriffsaparatur! [sic] Wenn nicht gegen meine These, deutlich sagen, wogegen.

(S. 72. „Sprache, in welcher sich jedes Urteil ausdrucken läßt …eine universale Sprache“) 🕮

Bemerkungen für Bauch

S. 33. „a \(\supset \) b“ und „~a \(\vee \) b“ seien zwar equivalent [sic], aber nicht sinngleich. (!) Denn es gibt eine Sinnregel, \(…a \supset b …a …b\), aber keine entsprechende für „~a \(\vee \) b“. (Da stimmt doch wohl etwas nicht! Unzweckmäßiger Sprachgebrauch zumindest)

Er spricht S. 35 selbst die Bedenken aus. Die hier S. 35 unten genannte Erweiterung genügt aber nicht; sondern: Umformbarkeit ineinander, rein logisch, ist die Bedingung.

S. 42 ff. Kap. 8. Die Definition von „Sinn“ trifft nicht das übliche! Das hängt mit den selbst geäußerten Bedenken zusammen. Nach ihm sind 2 Sprachen nicht ineinander übersetzbar, wenn sie sich etwa nur durch andere Auswahl der Axiome des Satzkalküls unterscheiden, obwohl doch dann dieselbe Formeln in beiden beweisbar sind.

Daß ein definiertes Zeichen nicht gleichen Sinn mit dem Definiens haben soll, zieht auch die Begriffe „Übersetzung“ und so weiter, und schließlich leider auch die ganze Erörterung der Konventionalismus in [Mitleidenschaft].

Ebenso „zusammenhängende Sprache“, „universalle [sic] Sprache“; seine Leugnung einer universalle [sic] Sprache hat also mit uns nichts zu tun (!!).


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