\brief{Carl Gustav Hempel an Ina Carnap, 1. Jänner 1933}{Jänner 1933} %Berlin -- Buch, den 1. 1. 1933. %Bucher Aue 51. \anrede{Liebe Ina,} \haupttext{es hat diesmal besonders lange gedauert mit der Beantwortung Ihres Briefes; seien Sie nicht böse! Es hatte einen ganz äußerlichen Grund: bis zum 30.\,12. mußte meine schriftliche Prüfungsarbeit fertiggestellt sein, und da ich bis zum 22.\,12. nur neben dem Unterricht an der Abfassung arbeiten konnte, so können Sie sich denken, daß meine Ferientage bisher sehr besetzt waren: 92 Seiten ist das Produkt dieser Tage lang geworden! (Um übrigens bei Ihnen nicht in den Ruf eines Genies oder eines intellektuellen Hochstaplers zu kommen, muß ich dazu sagen, daß ich das Material zu der Arbeit, es handelte sich um einen Bericht über Unterrichtserfahrungen in Philosophie, schon seit Monaten gesammelt und im Kopf geordnet hatte.) Und da Ihr netter und eingehender Brief doch auch eine eingehende und wenigstens versuchsweise nette Beantwortung verlangen konnte, so mußte ich bis heute warten. Haben Sie also zunächst recht herzlichen Dank für Ihre guten Wünsche und Grüße zu Weihnachten -- (vielleicht verzeihen Sie mir die bürgerliche Geste:) ich erwidere sie für Sie und Carnap\IN{\carnap} zum Neuen Jahr aufs herzlichste! Unter anderem erhoffe ich ja als eine besonders schöne Seite des neuen Jahres, daß es mich auf einige Zeit nach Prag führen wird. Haben Sie auch vielen Dank für Ihre reizende Bereitschaft, mich bei Ihnen aufzunehmen! Ich hoffe aber, zuvor bei Oppenheim einige Zechinen verdient zu haben, und dann ist es vielleicht besser, wenn ich mir -- möglichst in Ihrer Nähe -- ein Zimmer zu mieten suche; ich finde, es ist sonst eine zu große Belastung für Sie und auch für Carnap\IN{\carnap}. Dagegen werde ich dann, so oft es Ihnen passt, zu Ihnen kommen; wenn Sie erlauben, auch manchmal zum Essen! Und nun halten Sie vor allem den Daumen, daß aus der ganzen Sache was wird; ich würde mich \uline{sehr} freuen! Eine ganz große Überraschung war Carnaps\IN{\carnap} Weihnachtspäckchen aus Wien, das pünktlich am 24.\,12. hier eintraf! Ich bin \neueseite{} sehr gerührt über so viel Nettigkeit; sagen Sie ihm doch bitte recht herzlichen Dank! Ich hab den ,,Fabian``\IW{\fabian} doch noch in den Feiertagen neben aller meiner Schreiberei begonnen und inzwischen schon zu Ende gelesen; es hat mich gar nicht wieder losgelassen. Ich finde die Geschichte ja sehr deprimierend und hoffe, daß sie in der Grundtendenz doch ein bißchen überspitzt ist; würden Sie nicht Kästner\IN{\kaestnererich} mal in die Psa. [Psychoanalyse] schicken? Lassen Sie mich doch mal wissen, wie Sie zu dem Buch stehen! Mich hat es sehr beschäftigt, ohne meine volle Zustimmung finden zu können, und ich will nun versuchen, weitere Sachen von Kästner\IN{\kaestnererich} zur Lektüre zu bekommen. -- Sehr gefallen haben mir gewiße Formulierungen in dem Buch\IW{\fabian}! Hoffentlich hat Carnap\IN{\carnap} schöne Tage gehabt in Wien! Ich würde ja zu gern mal wissen, wie es mit Schlick\IN{\schlick} gewesen ist, und ob eine Aussprache mit Waismann\IN{\waismann} und eine Klärung der gegenseitigen Ansichten stattgefunden hat! Es wäre sehr nett, wenn Sie mal gelegentlich ein paar Stichworte hierüber mitteilen würden! Nun habe ich noch Einiges zu Ihrem Arbeitsprogramm auf dem Herzen, mit dem Sie ja eigentlich, wenn ich recht sehe, Carnap\IN{\carnap} sein auf die ,,Semantik``\IC{\logischesyntax} folgendes Buch vorwegnehmen! Ich kann sehr wohl verstehen, daß Sie die modalitätslogische Frage nicht so sehr verlockt; aber wenn Sie mich nach meiner ehrlichen Meinung fragen, dann muß ich sagen, daß Sie sich meiner Ansicht nach eine zu umfassende Aufgabe stellen, deren Behandlung mehrere Jahre in Anspruch nehmen könnte -- und das ist doch gar nicht in Ihrer Absicht. Dazu kommt, daß manche der von Ihnen in Aussicht genommenen Fragen schon eine Darstellung vom Standpunkt des Wiener Kreises\II{\schlickzirkel} aus erfahren haben, besonders das psychophysische Problem (von Carnap\IN{\carnap}) und das Kausalproblem (von Schlick und, incl. Willensfreiheit, in sehr gründlicher Weise von Frank\IN{\frankphilipp}.) Hier könnten Sie \uline{im wesentlichen} nur das wiederholen, was bereits von den genannten Vertretern des Wiener Kreises\II{\schlickzirkel} gesagt worden ist -- oder Sie müßten eine so eingehende und auf Semantik (incl. Kalkül voraussichtlich; im Stile des ,,Logischen Aufbaus``\IC{\konstitutionstheorie}) gestützte Analyse geben, daß Ihre Dissertation auf einen Umfang von mehreren hundert Seiten anschwellen würde. Außerdem bleibt die Gefahr, daß die Arbeit -- was ja bei einer Diss. nicht der Fall sein soll, einen im wesentlichen referierenden Charakter erhält. -- Andererseits aber finde ich den Grundgedanken Ihres Programms sehr schön, und ich glaube, daß man auf diesem Wege wirklich eine gute und \neueseite{} zu neuen und wichtigen Resultaten führende Arbeit schreiben kann; man wird sich eben nur in der Zielsetzung in geeigneter Weise beschränken müssen. Wollen Sie nicht solche -- durchaus traditionellen -- Probleme untersuchen, die von den Wiener Kreislern nur in ganz großen Zügen untersucht worden sind, wie z.\,B. das Problem der ,,wissenschaftlichen Begründung`` der Geisteswissenschaften? Hier liegt ein spezieller Fragenkreis vor, dessen ausdrückliche Durcharbeitung mit den Mitteln moderner logischer Analyse -- es braucht vielleicht nicht einmal viel \uline{Kalkül} vorzukommen -- mir wirklich ein Desideratum zu sein scheint. Es würde sich da etwa um folgendes handeln: Man müßte untersuchen, was sinnvoll ist am Begriff des Verstehens, der nach Dilthey\IN{\dilthey} und anderen die fundamentale Methode geisteswissenschaftlicher Erkenntnis darstellt; man müßte überhaupt mal die Veröffentlichungen einiger prominenter Geisteswissenschaftler unter solchen kritischen Gesichtspunkten durchsehen; da entstünde auch z.\,B. die Aufgabe, die immer wieder aufgerollte ,,Theorie des objektiven Geistes`` (Vor einigen Wochen ist ein Buch\IW{} von Nicolai Hartmann\IN{\hartmannnikolai} erschienen, das Furore zu machen scheint und diesen Titel trägt) zu analysieren usw. Das Thema wäre dann ungefähr: ,,Logische Analyse einiger geisteswissenschaftlicher Begriffsbildungen``. Im Grunde ist es nur eines der Probleme, die Sie ohnedies Ihrem Programm nach zu behandeln hätten; aber Sie werden, falls Sie sich speziell hierfür interessieren sollten, bald sehen, daß es schon eine ungeheure Arbeit ist, sich durch die ganze Literatur durchzufressen. -- Ein ebenfalls hierher gehörendes Problem wäre das der ,,Autonomie`` gewißer Gebiete wie der Wissenschaft, der Ethik, der Religion usw. um deren ,,Begründung`` gerade die gegenwärtige Geisteswissenschaft (Spranger\IN{\spranger}, Litt\IN{\litt} u.\,a.) sich bemüht. -- Aber es muß nicht gerade dieser Problemkreis sein; im ganzen möchte ich nur sagen: es scheint mir besser und viel aussichtsreicher, Sie \uline{beschränken} Ihr Progr[amm], und zwar auf ein Problem(gebiet), das möglichst noch nicht in der Literatur behandelt ist. -- Daß es nicht ratsam ist, in solche Fragen einzugreifen, die innerhalb des Kreises noch im Fluß sind, wie Sprache über die Sprache o. dgl., scheint mir auch sehr richtig. So, hoffentlich ,,entmutigt`` Sie diese Meinungsäußerung nicht -- was ganz unberechtigt wäre!! Bitte, lassen Sie mich wissen, was Sie und Carnap\IN{\carnap} zu all dem meinen, und wie Sie sich entschließen! Aber geben Sie nicht Ihren Plan überhaupt auf! Hoffentlich geht es Ihnen gesundheitlich inzwischen etwas besser; ich bedaure Sie sehr mit Ihren bösen Zähnen! Für heute die herzlichsten Grüße und Wünsche für Sie und Carnap\IN{\carnap}; \textkritik{und nochmals vielen Dank!}\fnA{Hsl.}} \grussformel{Ihr\\ Carl G. Hempel} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848318}{RC 102-14-44}; Briefkopf: msl. \original{Berlin -- Buch, den 1.1.1933 \,/\, Bucher Aue 51}.}