\brief{Ina Carnap an Carl G. Hempel, 12. Dezember 1932}{Dezember 1932} %prag, den 12.dezember 1932. \anrede{lieber kleiner hampelante!} \haupttext{ich danke ihnen herzlich für die mir durch carnap\IN{\carnap} gesandte bonbonschachtel; was drin ist, weiß ich nicht, denn mein geiziges gemüte bringt es nicht über sich, zum eigenen fraß eine packung aufzumachen. die wird immer für das nächste fest zum weiterschenken aufgehoben. also, wenn sie mir wieder so was schenken wollen, und sogar wert drauf legen, daß ichs selber esse, wählen sie besser 10 dkg saure zuckerln. ich bin so einfachen freuden sehr zugänglich. an ihrer schönen schachtel wird sich diesmal carnaps\IN{\carnap} kleiner junge\IN{\johannes} erfreuen, der über weihnachten zu uns kommt. ich habe ihnen auch noch für einen brief zu danken; ich kann ihn aber gegenwärtig nicht finden, sicher hat er sich in die carnapschen\IN{\carnap} herrlichen registraturen verkrochen. ich weiß aber noch beiläufig was drinstand. ich freue mich sehr, daß sie im mai oder juni für einige wochen kommen wollen. wir werden sie schon unterbringen, machen sie sich keine quartiersorgen. es ist nur schade, daß sie dann ihr rigorosum noch nicht vorbei haben und also noch sorgenbeladen und zeitbeschränkt sind. aber vielleicht kommen sie gerade, um noch letzte aussprachen vor dem r[igorosum] mit c[arnap]\IN{\carnap} zu halten. ich bin schon etwas aus der herbstlichen wehmut herausgeraten. wahrscheinlich deshalb, weil ich wieder ein kleines bissle fleißiger bin. vor allem lerne ich fleißig englisch, weil wir wieder etwas zielhafter nach amerika schielen. und dann habe ich mir nun selber ein arbeitsthema ausgedacht, das ich vielleicht werde bewältigen können, und das mir mehr spaß machen wird, als die rosinenlose modalitätslogik. ich möchte die stellung des wiener kreises\II{\schlickzirkel} zu den traditionellen philosophischen problemen fixieren. das scheint mir ganz hübsch und hat den vorteil, daß ich dazu allerhand an geschichte der philosophie, erkenntnistheorie und dgl. lernen und lesen muß. carnap\IN{\carnap} würde zwar rügen, daß ich schon wieder über ungelegte eier gackere. aber sie sind doch meine rat- und mutquelle in studienangelegenheiten; da darf mans doch. ich denke mir den plan der arbeit beiläufig so: 1. charakteristik der richtung des wiener kreises\II{\schlickzirkel} (vielleicht als ergänzung der darstellungen von feigl\IN{\feigl} \& blumberg\IN{\blumberg} einerseits, und von petzäll\IN{\petzaell} andrerseits. f[eigl]\IN{\feigl} berichtet mehr die schlickschen\IN{\schlick} momente, p[etzäll]\IN{\petzaell} mehr die waismann\IN{\waismann}-wittgensteinschen\IN{\wittgenstein} moment als hauptkennzeichen. ich würde dann mehr die carnapsche\IN{\carnap} seite betonen, semantik und protokollsätze haben die sache ja gänzlich verändert. es kann aber auch sein, daß es nicht lohnt, auf diese beiden darstellungen näher einzugehen, sondern daß es besser ist, eine zusammenhängende und bezuglose neue darstellung zu schreiben. was meinen sie?) \neueseite{} 2. kurze darstellung der einzelnen probleme, vielleicht nach wissensgebieten geordnet. (ich habe schon diverse ,,einführungen`` u. dgl. durchgesehen. es scheint mir am zweckmäßigsten, wenn man jeder frage doch einen kleinen historischen schwanz beigibt; das ist zwar langweilig, aber es ist sonst zu schwierig, die verschiedenen auffassungen auseinanderzuhalten. und dann könnte man die frage jeweils als scheinproblem darstellen oder den sinnvollen kern herausholen und in formaler redeweise darstellen. ich denke, vor allem die traditionellen probleme durchzunehmen und die neueren und neuesten fragen, wie sie sich z.\,b. aus dem tractatus\IW{\tractatus} ergeben, gar nicht zu berühren; oder doch nur insoweit, als es mir zu der carnapschen\IN{\carnap} auffassung wichtig erscheint. so vielleicht die frage über den zusammenhang zwischen sprache und wirklichkeit, oder möglichkeit von sätzen über sätze usw. darüber bin ich mir noch nicht recht klar. soll ich ihnen schreiben, an welche fragen ich bisher gedacht habe? psychophys. parallelismus, sinnproblem, wirklichkeitsproblem (substanzbegriff), erkenntnisse a priori, kausalität (determinismus, willensfreiheit), wesen und aufgabe der philosophie, identität, usw. eigentlich ist das reden vom ,,wiener kreis``\II{\schlickzirkel} ja mehr oder weniger unfug und nur eine neurathsche\IN{\neurath} posaune. es scheint mir, daß das, was ich z.\,b. als die stellungsnahme des w[iener] k[reis]\II{\schlickzirkel} zu den einzelnen problemen bezeichnen werde, eigentlich nur die ansicht carnaps\IN{\carnap}, franks\IN{\frankphilipp} und neuraths\IN{\neurath} ist. vielleicht noch manchmal die schlicks\IN{\schlick}. aber das ist auch schon so ziemlich alles. ich kann ein leises mißbehagen darüber, daß neurath ein führender philosoph ist, nicht ganz unterdrücken, obwohl ich immer mehr sehe, daß seine ahnungen und ablehnungen den gang der entwicklung vorwiegend bestimmen. aber er macht auf mich einen unseriösen eindruck, wenn er von philosophie spricht, ganz im gegensatz dazu, wenn ich ihn über seine statistik oder über volkswirtschaft reden höre. und es ist auch keine persönliche antipathie, ich mag ihn sogar recht gern, wenn ich auch gewisse ,,aristokratische und arische`` gefühle ihm gegenüber nicht verlieren kann (siehe schlick). na ja, so ist das leben. carnap\IN{\carnap} ist jetzt in wien, kommt samstag wieder, freitag kommt der kleine junge; da will ich noch vorher alle meine schreibungen erledigen. ich habe mit tiefer rührung und bewunderung von ihrem fleiß gehört! aber das ist ein beispiel, dessen nachahmung mir nicht liegt. und ich habe mich auch sehr über ihre pädagogischen erfolge gefreut. kleiner hampelante, es wird hier in prag wirklich sehr herzlich an sie gedacht! haben sie nachricht von broadwins\IN{\broadwin} \IN{\broadwinfrau}? ich habe seit dem sommer nichts mehr gehört. c[arnap]\IN{\carnap} und ich haben jetzt eine besonders gute zeit miteinander. dabei ist unter jetzt nicht seine abwesenheit in wien gemeint, sondern die letzten monate. und das ist keine zufallserscheinung, sondern vom anfang unseres kennens an geht die linie eigentlich immer nach aufwärts. ich überlege manchmal mit einer gewissen neugier, wie lange es nach aufwärts gehen kann. dieses gutgehen gedeiht am besten, wenn wir nicht zu viel fremde leute sehen. nun, der grund dafür ist ihnen ja bekannt. rein äußerlich gehts mir nicht ganz so glänzend; die schmerzen im kiefer sind wieder da und trotz arztwechsel und röntgenaufnahme haben wir noch nicht herausgekriegt, was es genau ist. die aufnahmen haben zwar einige eiterherde an den wurzelspitzen gezeigt, aber die hauptschmerzen sitzen wieder im gelenk. man wird alt! falls ich nicht mehr zum schreiben komme, nehmen sie diesen brief schon als weihnachtsgruß und seien sie herzlich gegrüßt von} \grussformel{ihrer\\ ina} \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848320}{RC 102-14-45}; Briefkopf: msl. \original{prag, den 12.\,dezember 1932}.}