Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 3. Dezember 1932 Dezember 1932

Lieber Carnap‚

Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut, besonders über die Aussicht, Dich nun bald wiederzusehen, nach so langer Zeit. Ich hoffe aber, daß Du länger bleiben kannst als nur „einige Tage“, denn Deine Zeit hier wird wohl durch Verabredungen stark in Anspruch genommen sein. Über meine Stunden im Voraus zu disponieren, ist ziemlich schwer; es ist aber so gut wie sicher, daß ich Dienstags und Freitags von 10 Uhr ab den frei Vormittag frei bin. Jedoch hoffe ich Dich außerdem einmal Nachmittags bei mir zu sehen.

Der Donnerstags-Abends-ZirkelISchlick-Zirkel, Wiener Kreis findet jetzt Freitags Nachmittag statt, weil es mir immer noch nicht gut tut, abends auszugehen. Gestern haben wir beschlossen, am 9ten Dein MSB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 vorzulesen und dann am 16ten darüber zu diskutieren. Wir beginnen um 4 Uhr mit akademischem Viertel. Bisher habe ich nur ein bißchen an Deinem MS genascht, und es sind mir da einige Bedenken gekommen, die aber vielleicht bei aufmerksamer Lektüre zerstreut werden.

Nun muß ich Dich aber vor allem bitten, mir wegen meines langen Schweigens nicht böse zu sein. Wenn ich nicht irre, habe ich noch nicht einmal auf den Brief geantwortet, den ich in Südtirol erhielt. Es war nicht die geringste böse Absicht dabei im Spiele, sondern nur meine Lässigkeit, teils auch meine Arbeit und der Umstand, daß ich sozusagen viel in fernen Regionen weilte. Alle, denen ich Briefe schulde, sind gleich schlecht behandelt worden. So habe ich auch seit dem Sommer nicht an WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph geschrieben und ihm daher auch die für ihn bestimmten Stellen Deines letzten Briefes noch nicht mitgeteilt. Jetzt aber, nachdem ich mich einmal zur Korrepondenz aufgerafft habe, will ich es sofort tun; wenn möglich noch heute. Ich schwänze heute eine Fakultätssitzung, um in Ruhe Briefe schreiben zu können. Übrigens habe ich mich überzeugt, daß W[ittgenstein]sPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph Klagen über Deine Verwendung seiner Gedanken ganz ungerecht waren und daß man Dir keinerlei Vorwurf machen kann.

Mir geht es insofern noch nicht ganz gut, als ich noch an Herzbeschwerden und schlechtem Schlafe leide, insofern aber doch recht befriedigend, als meine Stimmung nicht darunter litt. Im Gegenteil fühle ich mich seit September besonders wohl, um nicht zu sagen: glücklich. In Südtirol war es herrlich, und auch die Wiedereingewöhnung in Wien fiel nicht schwer. Eben bin ich von meiner Londoner Reise zurückgekommen (Rückweg über Paris und Mannheim) und habe schöne Eindrücke heimgebracht. Meine VorträgeB🕮 in London werden in England als BuchB erscheinen, ebenso eine Übersetzung meiner „Fragen der Ethik“B, an der man gegenwärtig in Amerika arbeitet. Als verständigsten Philosophen fand ich in London eine Philosophin, nämlich Miss StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin, deren „Introduction to Modern Logic“B zwar viele Mängel hat, die aber die seltene Fähigkeit hat, für alles Vernünftige sofort zugänglich zu sein.

Also ich freue mich wirklich sehr auf Dein Kommen. Bis dahin lebe recht wohl. Bitte grüße Frl. StögerPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap herzlich, ebenso FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank und FrauPFrank, Hania, 1894–1967, geb. Gerson, verh. mit Philipp Frank.

Mit den besten Wünschen

Dein
M. Schlick

Brief, msl., 2 Seiten, RC 029-29-01; Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. M. Schlick  /  Wien IV.  /  Prinz-Eugen-Str. 68, msl. 3. Dezember 1932.


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