Carl G. Hempel an Ina Carnap, 27. November 1932 November 1932

Liebe Ina‚

nun aber zücke ich mein ganz unsachliches Privatkorrespondenzpapier – beachten Sie besonders den schönen Umschlag! – und danke Ihnen herzlich für Ihren schönen Brief; es war wirklich sehr nett, daß Sie einmal wieder so eingehend berichtet haben! Und dann der schöne Burgstein-Prospekt – auf den hin man gleich mit dem nächsten Zug losdampfen möchte, nicht wahr? Ich würde mich ja schließlich im Winter doch ein bißchen unglücklich fühlen da oben, als Ski-ungeübter und ungeschickter Flachländler, während Sie und CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap in großen Stemmbögen und imposanten Christianias über die verschneiten Halden sausen würden, auf denen wir im Sommer gelustwandelt sind! Es waren doch zu schöne Tage, und es tut mir bloß leid, daß Sie nicht auf die ganze Tiroler Zeit mit ungetrübter Freude zurückblicken! Aber sehen Sie: im nächsten Jahre drohen keine solchen Verhängnisse wie die, denen Sie jetzt die Schuld an den Schwierigkeiten geben, da geht das alles viel einfacher. Wenn Sie und CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap mögen und es mit mir zeitlich und finanziell klappt, dann können wir vielleicht im nächsten Jahre wieder einige Zeit im Sommer zusammen sein; ich fände das herrlich! Außerdem trage ich mich ja mit der Hoffnung, im kommenden Frühsommer oder schon etwas eher auf einige Wochen nach Prag kommen zu können; das hat Ihnen CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap wohl schon erzählt? Aber vorerst lassen Sie unsere gemeinsamen Bekannten noch nichts davon wissen (ich habe auch Reichenbach gegenüber vorerst nichts davon erzählt), weil es eben noch so ungewiß ist.

Ist Ihre herbstliche Stimmung im Abklingen? Ich wünsch es Ihnen sehr! Machen Sie aber nicht soviel Theorie darüber; nach den Erfahrungen, die ich an meinen eigenen depressiven Zuständen gemacht habe, kommt im Grunde erst die Depression, und dann wird sie nachträglich an irgendeinen Anlaß angehängt, durch irgendeinen Hinweis „begründet“. Und bei Ihnen muß nun die Wissenschaft dazu herhalten, ganz unberechtigterweise! Ich habe CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap gleich nochmal gefragt, was er Ihnen denn vorweggenommen habe, und danach habe ich den Eindruck, daß Sie gar keinen Grund haben, Ihre Arbeit abzubrechen. Es ist doch bei 🕮 einer Dissertation so, daß der „Doktor-Vater“ (zu Ihnen steht also CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap in dieser Beziehung) die Anregungen gibt, die der Doktorand nun in ihren Konsequenzen verfolgt; und diese Aufgabe würde Ihnen nun für die Modalitätslogik obliegen. Das kann ja auch so geschehen, daß Sie einige der früheren modalitätslogischen ArbeitenBB, wie die von BeckerPBecker, Oskar, 1889–1964, dt. Philosoph, Schüler von Edmund Husserl, von LewisPLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph usw kritisch durchmustern und nun an diesen konkreten Fällen zeigen, daß die hier als „intensionale Relationen“ eingeführten Begriffe eigentlich semantisch sind, und daß man bei genauerem Zusehen auch erkennt, daß den betreffenden Autoren im Grunde das vorschwebt, was CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap nun in der SemantikB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 präzisiert; daß sie sozusagen selbst noch keinen adäquaten Ausdruck für das gefunden haben, was ihnen „eigentlich“ vorschwebt. Bei BeckerPBecker, Oskar, 1889–1964, dt. Philosoph, Schüler von Edmund Husserl geht das ausgezeichnet. Ferner mag sich an einigen Stellen zeigen, daß die Autoren einen Begriff der strengen Implikation, der Notwendigkeit usw im Auge haben, der auch bei präziser semantischer Fassung nicht ganz mit der CarnapschenPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap Begriffsbildung zusammenfällt, und es läßt sich dann darüber diskutieren, welche Def. der betr. Begriffe den Vorzug verdient, und aus welchen Gründen. Das alles hat doch CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap in seinem MSB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 gewiß nicht untersucht, und das ist durchaus Stoff für eine Dissertation! Die Fragen der intensionalen Beziehungen sind ja bei weitem nicht allgemein geklärt: Noch DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph fragte mich neulich einiges diesbezügliche, was mir deutlich machte, daß auch eine Arbeit, wie Sie sie schreiben könnten, ihren Wert und ihr Interesse hätte. Also, überlegen Sie sichs doch noch einmal, ob Sie wirklich die Flinte ins Korn werfen wollen! – Gehen Sie übrigens gelegentlich in Seminare und Vorträge des „feindlichen Lagers“? Man bekommt da immer mal Anregungen für kritische Auseinandersetzung.

Es freut mich sehr, daß Sie mit Ihrem Radio zufrieden sind! Da stehen wir ja übrigens im Programmaustausch miteinander: wir hören sehr oft leichte Musik aus Prag, wenn hier in Deutschland zu schwere Sachen gesendet werden!

Grüßen Sie NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath bestens von mir – wenn er nicht schon wieder fort ist! – Das Zusammensein mit CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap hat mir viel Freude gemacht; nebenher nimmt man noch eine kleine Nase voll Wissenschaftlichen Duftes mit, von dem man sich nur zu schnell entwöhnt in dem Schulkram.

Es geht mir aber gut‚** von meinem Schulkram und sonstigen Dingen habe ich CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap in großen Zügen erzählt; vielleicht berichtet ers Ihnen wieder. auch ohne PsaPsychoanalyse?! Und Ihnen wünsche ich nun das gleiche! – Bitte, grüßen Sie CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap vielmals von mir; hoffentlich ist ihm die Reise gut bekommen! Und schließlich nehmen Sie für sich selbst die herzlichsten Grüße und Wünsche:

Ihr
Carl G. Hempel

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-14-47; Briefkopf: msl. Berlin-Buch, den 27.11.1932  /  Bucher Aue 51.


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