Bernhard Bavink an Rudolf Carnap, 29. Oktober 1932 Oktober 1932

Sehr geehrter Herr Professor!

Entschuldigen Sie, daß ich erst heute Ihren frdl. Brief beantworte. Die gewünschte Nr. 8 von „Unsere Welt“IUnsere Welt, Zeitschrift habe ich Ihnen, glaube ich, neulich geschickt. Sollte das eine Erinnerungstäuschung sein – ich werde entsetzlich vergesslich – so melden Sie sich bitte noch einmal. Es freute mich sehr zu lesen, daß Ihnen meine Kritik nicht nur Mißfallen erregt hat. Was Ihre Bedenken gegen den AufsatzB von TollertP über SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick anlangt, so teile ich die selber. Aber Sie wissen als Redakteur einer ZS auch, daß man nicht immer alles ablehnen kann, was man wohl möchte, wenn es von einem sonst geschätzten Mitarbeiter kommt. TollertP ist Physiker, er referiert auch für die Phys.Ber.I und versteht die moderne Physik offenbar ausgezeichnet, dazu noch vieles andere, sodaß ich ihn ungern verlieren möchte. – Zur Lektüre der letzten beiden Hefte „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift bin ich noch nicht gekommen, hoffe aber jetzt in den Ferien Zeit dazu zu finden. Das Schlimme ist, daß ich mir alles neben der Schule her abringen muß. Im Augenblick bin ich mitten in der Bearbeitung der neuen (5.) Auflage meines BuchesBBavink, Bernhard!1930@Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Leipzig, 1930, da muß alles andere zurückstehen. Herr ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach hatte mich, als ich ihn das letzte Mal in Berlin besuchte, gebeten, einmal in Ihrer ZSIErkenntnis, Zeitschrift eine Kritik Ihres Standpunkts zu schreiben. Das reizt mich an sich sehr, aber im Augenblick ist es rein unmöglich, die Zeit dazu zu gewinnen, da außer besagtem Buche noch zwei andere Manuskripte halbfertig daliegen und erst besorgt werden wollen. Dazu immer die redaktionellen Arbeiten, die verd…(entschuldigen Sie) „Umschau“, die den Lesern so viel Freude, mir aber eine Heidenarbeit macht, usw. Ich komme oft nicht mehr durch, denn so nebenbei wollen meine Primanerinnen und Sekundanerinnen natürlich auch noch allerlei von mir. Also nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich vorläufig nicht dazu komme. Ich hoffe indes, in diesem Winter, wenn das andere fertig ist, einige ruhige Wochen dazu zu finden.

Als ich kürzlich mit meiner FrauPLohmann, Hertha, verh. mit Bernhard Bavink in Jena zum FerienkursusI war (ich lese dort seit vorigem Jahre anstelle DetmersP die Naturphilosophie) kam an einem Abend 🕮 bei WeinelsPWeinel, Heinrich, 1874-1936, dt. Theologe, Prof. in Jena, verh. mit Ada WeinelPWeinel, Ada, 1875-1939, dt. Religionspädagogin, verh. mit Heinrich Weinel auch die Rede auf den ehemaligen „Sera“-KreisISerakreis und damit auch auf Sie, sowie meinen verstorbenen Schwager Wilhelm LohmannPLohmann, Wilhelm, †1926, Chemiker, Bruder von Helene Stackelberg, (von dem Frau Bergemann-KönitzerPBergemann, Martha, 1874–1955, geb. Könitzer, Bildhauerin, Graphikerin und Kunstpädagogin eine sehr schöne Büste angefertigt hat). Es fiel mir dabei ein, daß ich Ihnen wohl noch niemals geschrieben habe, daß m[eine] Frau (Hertha LohmannPLohmann, Hertha, verh. mit Bernhard Bavink, damals verw. Frau König) Sie von Jena her kennt. Vielleicht kennen Sie meine Schwägerin Lene v. StackelbergPStackelberg, Helene von, 1895-1964, geb. Lohmann, auch Lene, dt. Ärztin, Schwägerin von Bernhard Bavink, heiratete 1920 Traugott von Stackelberg, aktiv in der Freideutschen Bewegung, die zzt hier auf Besuch ist, besser.

Daß das Ordinariat in Darmstadt, für das ich von der FakultätI neben DinglerPDingler, Hugo, 1881–1954, dt. Philosoph vorgeschlagen war, letzterer gekriegt hat, haben Sie jedenfalls gelesen. Ich gönne es ihm gern, da er so furchtbar lange hat warten müssen, bezweifle aber, ob die Techniker von seiner rein erkenntnistheoretischen Einstellung viel Gewinn haben werden. Wenn ich es bedaure, hier immer noch festzusitzen, so deshalb, weil ich Zeit haben möchte für wichtigere Arbeiten als die ist, Obertertianerinnen den Satz des Pythagoras beizubringen und dgl. Ist es Ihnen bekannt, wer den Lehrstuhl von SapperP in GrazIÜniversität Grazaksl. jetzt hat? Der ist doch abgegangen? Aber dort nimmt man natürlich auch nur Katholiken. Daß Herr ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach immer noch keinen Ruf gekriegt hat, ist auch ein Skandal. Wie er mir erzählte, geht er mit dem Plan um, die Naturwissenschaftler der Hochschulen zusammenzuschließen, damit sie eine angemessene Berücksichtigung ihrer Interessen bei der Besetzung der philosophischen Lehrstühle verlangen. Das wäre allerhöchste Zeit, ganz besonders heute, wo die Neuhegelianer sich so breit machen. Ihre Kritik an HeideggerPHeidegger, Martin, 1889–1976, dt. Philosoph hat mir einen ungeheuren Spaß gemacht. In diesem Punkte sind wir einig, wenn auch sonst viele Differenzen bestehen mögen. Ich halte Metaphysik nicht wie Sie für ganz unmöglich, wohl aber das, was H[eidegger]PHeidegger, Martin, 1889–1976, dt. Philosoph e tutti quanti dafür ausgeben, für sinnloses Wortwerk.

Mit ergebenstem Gruß

Ihr
B Bavink

Brief, msl., 2 Seiten, RC 028-04-04; Briefkopf: msl. Bielefeld, 29. 10. 32  /  Hochstr. 13  /  Herrn Univ. Prof. Dr. R. Carnap  /  Prag.


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