\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Wien,} 26.~Oktober 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 26. Oktober 1932}{Oktober 1932}\labelcn{1932-10-26-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Wohnungsfrage in Moskau schwierig. Daher reise ich erst um den 20.~Nov. Am 17.~Nov. bin ich bei Euch in Prag, spreche im sozialen Institut\II{\sozialforschung}.\fnE{Zu diesem Vortrag vgl. oben, Brief Nr. \refcn{1932-08-10-Neurath-an-Carnap}.} Da können wir weitere Bruttodiskussionen abführen. Natürlich unter uns, ehe wir was drucken. Nur die Nettodiskussionen gehören vors Publikum. Ich fand nur, daß Du in Deiner Antwort zu wenig genau auf meine präzisierten Bedenken eingegangen bist, die ich doch in Thesen faßte. Z.\,B. ,,methodischer\fnA{\original{methodischen}} Solipsismus``, es gibt wohl nicht mehr den Terminus ,,Fremdpsych\ekl{isches}``, ,,Eigenpsych\ekl{isches}`` usw. usw. Statt dessen bringst Du etwas, das nicht Deinen alten Standpunkt stützt, sondern ganz andere Bahnen geht. Ich glaube nämlich, daß P\ekl{opper}\IN{\popper}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Popper}}.} den Empirismus verläßt. Wenn ich Dich recht verstehe, fällt bei ihm die Sonderstellung des Protokollierenden-Terminus und des Wahrnehmungsterminus weg! Das würde eine ganze Debatte verlangen. Besser wärs doch, P\ekl{opper}\IN{\popper} oder Du publiziert\fnA{\original{publizieren}} eine so grundsätzliche Sache kurz in der Erkenntnis\II{\erkenntnis}, statt daß nun etwas erscheint, und zwar in einer Aussprache, auf das man neuerlich antworten\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{nein!}}.} müßte, weil es früher \gesperrt{nicht} vertreten wurde. Mir ist die Filiation P\ekl{opper}\IN{\popper}-\nneurath{}\inneurath{} nicht wesentlich, aber ich erscheine nicht gern literarisch Arm in Arm mit jemandem, von dem ich \gesperrt{nicht sicher bin}, daß das ein zweiter Natkin\IN{\natkin} ist. Soll ich mich dann wehren und sagen: Nein, ich glaube, daß das \gesperrt{nicht} mit meinen Gedanken übereinstimmt, im Gegenteil \ldots\ usw.? Das sind taktische Erwägungen, die Du etwas weniger anstellst als ich. Du bist, ehe das Gegenteil feststeht, in gütiger Weise bereit, jedem Dein Ohr zu schenken und ihn für im ganzen vernünftig zu halten. Aber nichts für ungut. Mir ist ungemütlich. Einfach ungemütlich. \neueseite{} Übrigens erscheint P\ekl{opper}\IN{\popper} demnächst im Gomperzzirkel\II{\gomperzzirkel} und ich werde ihn wohl auch sehn. Zilsel\IN{\zilsel} hielt über Eddington\IN{\eddingtonarthur} ein mir wenig erfreuliches Referat. Scheinbar voll Ressentiment gegen den Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} und vor allem gegen mich. Na schön. Muß ich für Zwecke der Realwissenschaften zwischen syntaxwidrigem Quatsch (eine Verdoppelung gelber Integrale ergibt weiße Tugenden) und kontradiktorischen Sätzen einen Unterschied machen? Lassen sich nicht beide zusammen behandeln? Sag ein paar weise Worte dazu. Was in Deiner Abschlachtung der Metaphysik\IC{\ueberwindungdermetaphysik} drüber steht, kenne ich.\fnEE{In Carnap, ,,Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache``, 220 und 236, werden kontradiktorische Sätze als sinnvolle genommen.} Wie steht es nun ,,wirklich`` mit Deiner Meinung über ,,Ich`` und ,,Du``, die in Deinem Artikel\IC{} noch vorkamen? Bitte schau zu, daß unsere beiden Drucke\IW{\neurathprotokoll}\IC{\protokollsaetze} zusammen als Separata uns zugehen\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(Zusammengeheftet? Dafür bin ich nicht!)}}.} -- aber jedem 50!!! -- damit wir sie zusammen versenden können. Natürlich müssen sie im selben Heft erscheinen. Oh Reichenbach\IN{\reichenbach}. Der Schwierigkeitmacher. Du meinst ja immer, ich hätte schon zu viel Ressentiment gegen ihn. Jedesmal ärgere ich mich, wenn ich Deinen Namen kleiner gedruckt auf der Erkenntnis\II{\erkenntnis} sehe als seinen --\fnEE{Tatsächlich sind auf dem Cover der \textit{Erkenntnis} die Namen der beiden Herausgeber Carnap und Reichenbach zwar in alphabetischer Reihenfolge gedruckt, Reichenbachs Name aber in einer größeren Schrifttype.} Der Psychologievortrag\IW{\neurathvortragpsychologie} wirkte sehr belebend. Morgen bin ich mit Pappenheim\IN{\pappenheim} zusammen. Er will meinen Artikel\IW{}\fnEE{Gemeint ist wohl der oben angesprochene, jedoch nicht in der \textit{Imago} erschiene Aufsatz, möglicherweise aber auch Neurath, \textit{Einheitswissenschaft und Psychologie}.} mit mir durchsprechen. Was macht die Semantik\IC{\logischesyntax}? Gekürzt in der Franksammlung\II{\schriftenwisswelt}\IN{\frankphilipp} ist sie mir lieber als ungekürzt sonst wo in der Welt!\fnEE{\labelcn{1932-10-26-Neurath-an-Carnap-Syntax-Kürzungen}Carnap, \textit{Logische Syntax der Sprache}, erschien 1934 als Bd.~8 der von Frank und Schlick edierten \textit{Schriften zur Wissenschaftlichen Weltauffassung}; zwei dazugehörige Untersuchungen wurden aus Platzmangel ausgeschieden, erschienen gesondert und wurden erst wieder in die erweiterte englische Übersetzung 1937 eingearbeitet (,,Die Antinomien und die Unvollständigkeit der Mathematik`` und ,,Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik``).} Wann kommt Dein Psychologieaufsatz?\IC{\psychologiesprache}\fnE{Carnap, ,,Psychologie in physikalischer Sprache``.} Ich möchte ihn gern noch zitieren. Könnte ich nicht in Prag in kleinerem Kreise über konkrete Aufgaben der einheitswissenschaftlichen Arbeit etwa am Nachmittag reden?\fnE{Beim eingangs erwähnten Vortrag Neuraths am 17.~November war Carnap nicht in Prag; vgl. unten, Brief Nr.~\refcn{1932-11-04-Carnap-an-Neurath}.} Du! Ich bekomme 1000 Tsche\ekl{chische} K\ekl{ronen} für meinen Prager Vortrag\IW{}. Könntest Du mir hier in Wien dafür Schilling geben? \neueseite{}\zzz Du hattest einmal, glaube ich, ein Interesse daran. Sende dem Mundaneum\II{\mundaneum} alles, was Du an Separata hast, auch die von der Erkenntnis\II{\erkenntnis}. Ich werde Deine Arbeiten zusammen binden lassen. Es ist große Nachfrage. \gesperrt{Meine} Bibliothek ist \gesperrt{nicht} die des Mundaneums\II{\mundaneum}. Ich richte jetzt kleine einheitswissenschaftliche Kurse ein. Es soll feste gearbeitet werden. Eine Bühlerpsychologin\IN{\jahodamaria}\fnSE{Marie Jahoda.} ist jetzt bei uns eingetreten, die wird auch allerlei vorwärts bringen, hoffe ich.\fnE{Gemeint ist Marie Jahoda, vgl. unten, Brief Nr. \refcn{1932-11-03-Neurath-an-Carnap}.} Es ist nett, daß Ihr mit Franks \IN{\frankphilippfrau}\IN{\frankphilipp}zusammenkommt. Es ist schön, daß in Prag ein Zentrum entsteht. Ich will jetzt Mundaneum-Prag-Nebenstelle\II{} einrichten. Amsterdam ist im Gang.\fnEE{Im Gegensatz zu Amsterdam wurde in Prag keine Zweigstelle des \textit{Mundaneums} gegründet.} In Berlin Aussprache mit Individualpsychologen, wie ich Dir schon schrieb. Menschlich ergeben sich viele erfreuliche Beziehungen, besonders mit der jungen Generation. Aber es ist eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen, die durch uns bewegt wird. Auf der anderen Seite erregen wir viel Ressentiment, die Metaphysik ist eben sehr eingewurzelt. Grüß Ina\IN{\ina}, alles Gute} \grussformel{Dein\\ON}\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828474}{RC 029-12-17}; Briefkopf: msl. \original{26.~Okt.}, hsl. ergänzt durch \original{32}.}