\brief{Karl Popper an Rudolf Carnap, 22. Oktober 1932}{Oktober 1932} \anrede{Sehr geehrter Herr Professor,} \haupttext{ich danke Ihnen herzlich für Ihren freundlichen Brief und die Zusendung des Manuskripts.\IC{\protokollsaetze} Bezüglich der Untersuchung des Carnap-Effekts werde ich morgen Ihre Erlaubnis gleichzeitig mit der neuerlichen Betonung Ihrer Bedenken an Urbach weitergeben. Ich bilde mir ein, physikalische Gründe dafür zu haben, daß ich die Überprüfung nicht für hoffnungslos halte. (Nach meiner Berechnung könnten auch im Laboratoriumsmaßstab bei geschickter Anordnung nichtrelativistische Effekte von mehreren $kgm/sec$ erreicht werden. Handelt es sich doch nur darum, zwei sonst völlig gleiche Zentrifugen zu bauen, von denen die eine elastische Spannungen durch Rotation entspannt, die andere umgekehrt. -- Ich habe bereits einen Apparat entworfen, der auf einfachste Weise beides leistet. Aber über diese Dinge möchte ich lieber ein anderes Mal berichten: Sie schreiben, daß das Manuskript ,,Über Protokollsätze``\IC{\protokollsaetze} bald in Druck gehen soll, und ich möchte deshalb nur auf diesen Aufsatz eingehen. -- Über Ihre Absicht, bei Hahn\IN{\hahnhans} zu intervenieren, bin ich sehr froh und danke Ihnen sehr. Nun zu Ihrem Artikel ,,Über Protokollsätze``\IC{\protokollsaetze}. Vor allem möchte ich sagen, daß ich mich über die Stellen Ihres Aufsatzes, die sich auf mich beziehen, sehr gefreut habe. Erstens deshalb, weil es mir natürlich eine Befriedigung ist, daß unsere Burgsteiner Gespräche auch für Sie nicht ohne Eindruck waren; zweitens, weil die Aussichten für eine Veröffentlichung meines Buches bestimmt sehr verbessert werden, wenn Sie öffentlich erklären, daß Sie die Arbeit für wertvoll halten, drittens, weil mir auf diese Weise mein (von uns in Burgstein besprochener) Artikel\IW{\popperkriterium} für die ,,Erkenntnis``\II{\erkenntnis} ganz außerordentlich erleichtert wird: Ich habe seine \neueseite{} Disposition sofort so abgeändert, daß er unmittelbar an die Frage der Protokollsätze anknüpft und das Problem des Deduktivismus von dieser Frage her aufrollt. Dadurch wird mein Artikel mehr den Charakter eines Diskussionsbeitrages bekommen, während er sonst den (für meinen Geschmack viel zu anspruchsvollen) Charakter eines Generalreferates gehabt hätte: ich kann nunmehr das Wichtigste sagen, ohne mit den schweren Batterien eines neuen ,,philosophischen Systems`` anrücken zu müssen. Aus allen diesen Gründen bin ich also \uline{sehr einverstanden}, daß Sie in Ihrem Artikel\IC{\protokollsaetze} auf Gedanken von mir eingehen und ebenso mit der Art, \uline{wie} Sie es tun. (Die Gründe, die dafür sprechen, sind um ein vielfaches stärker als das -- wie ich gestehen muß -- ebenfalls vorhandene Bedauern des Autors, der sieht, daß seine Gedanken bei Ihrer ersten Veröffentlichung in ein fremdes System verarbeitet auftreten müssen. -- Aber ich bitte Sie ausdrücklich, \uline{in dem vorliegenden Fall} auf dieses Bedauern bestimmt \uline{keine Rücksicht zu nehmen}: Auch von meinem Standpunk aus gesehen, sind die Gründe, die \uline{für} die Veröffentlichung durch Sie sprechen, in diesem Fall bei weitem die stärkeren.) Um nun auf Einzelfragen einzugehen: Sie fordern mich auf, eventuell allgemein und insbesondere zu den Stellen, die sich auf mich beziehen, Stellung zu nehmen. Ich möchte meine diesbezüglichen Bemerkungen in zwei Teilen, -- unter den Schlagwörtern ,,\uline{Sachliches}`` und ,,\uline{Persönliches}`` vorbringen. -- ,,\uline{Sachliches}``: Vorerst einen geringfügigen und auch nicht sehr wichtigen Änderungsvorschlag: Auf S.\,16 kann das Wort ,,allerdings`` (in der Klammer, Zeile 23 von oben) wie ich selbst beim Lesen bemerkt habe, ein wenig irreführen: Es wirkt so, als ob es eine \uline{Einschränkung des entwickelten Standpunktes} ankündigen und der Soziologie eine Sonderstellung einräumen \neueseite{} sollte; -- dabei soll es doch nur einen Seitenhieb gegen alle metaphysischen Soziologen einleiten. Ich schlage deshalb für diese Klammer folgende Formulierung vor: (S.\,16) ,,(wobei wir voraussetzen, daß insbesondere die Soziologen ihre Metaphysik wenn schon nicht aus den Theorien, so doch wenigstens aus ihren Tatsachenberichten fernhalten.)`` Abgesehen von diesem unwichtigen Änderungsvorschlag möchte ich keine weiteren sachlichen Änderungsvorschläge machen, und zwar aus folgendem Grund: Ihre Darstellung ist in jeder Hinsicht ausgezeichnet und klar, auch in der Darstellung des von mir vorgeschlagenen ,,Verfahrens B``. Dennoch kann ich mich mit dem Standpunkt Ihres Artikels\IC{\protokollsaetze} natürlich nicht ganz identifizieren. Es handelt sich dabei nicht um einzelne Punkte, die man abändern könnte, sondern um die Gesamtansicht der Frage. Sie stellen die Hauptfrage: ,,Protokollsätze in- oder außerhalb der Systemsprache?{}`` Bei dieser Fragestellung erscheinen die Antworten von Neurath\IN{\neurath} und von mir als nahe verwandt. Ich sehe die Frage unter einem anderen Gesichtspunkt (Abgrenzung der Metaphysik, konsequenter Deduktivismus, transzendentales, d.\,h. methodologisches Verfahren der Erkenntnistheorie). Von diesem Standpunkt aus erscheinen wieder die Antworten Carnap\IN{\carnap} und Neurath\IN{\neurath} als nahe verwandt, während meine Antwort eine \uline{ganz} andere Stellung einnimmt. Diese Andeutungen dürften genügen, um klar zu machen, weshalb ich hier keine weiteren sachlichen Änderungsvorschläge bringe, mir aber für meinen Aufsatz eine kritische Stellungnahme vorbehalten möchte. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhange noch, daß es mir besonders angenehm ist, daß die Angelegenheiten des Deduktivismus und meiner Abgrenzung der Metaphysik in Ihrem Artikel nicht mitverarbeitet sind und daß sich der Artikel (mit größerer Konsequenz, als ich wohl imstande wäre) \neueseite{} ganz auf die Frage der Protokollsätze beschränkt. Schon deshalb, weil ich alle diese Dinge in meinem Artikel darstellen möchte, kann ich in dieser Richtung keine Änderung vorschlagen. ,,\uline{Persönliches}``: Vor allem muß ich feststellen, daß man in Ihrem Aufsatz\IC{\protokollsaetze} deutlich die Absicht merkt, mich zu fördern und nicht zu kurz kommen zu lassen. Ich glaube, daß es Ihnen daher nicht ganz unwillkommen sein wird, wenn ich Sie auf einige Punkte aufmerksam mache, in denen ich, wie ich glaube, dennoch zu kurz komme! (Sie machten einmal in Burgstein die vermutlich ganz richtige Bemerkung, daß ich wegen Mangel an Erfolg überempfindlich sei. Ich habe deshalb alles, was ich hier vorbringe, Prof. Kraft\IN{\kraftvictor} zur Kritik vorgelegt, damit etwaige Überempfindlichkeiten ausgemerzt werden. Kraft\IN{\kraftvictor} hielt es aber für richtig und notwendig, daß ich Sie auf diese Punkte aufmerksam mache. Es tut mir freilich leid, daß mein Brief dadurch noch länger wird.) Ihr Artikel\IC{\protokollsaetze} ist als Antwort eines Artikels\IW{\neurathprotokoll} von Neurath\IN{\neurath} geschrieben; es ist daher nur recht und billig, daß Neuraths\IN{\neurath} Auffassung und Name im Vordergrund steht, nicht aber meine. Anderseits sieht aber die Sache in der gegenwärtigen Form so aus, als ob ich nur die Intentionen Neuraths\IN{\neurath} ausgeführt hätte. Ganz abgesehen davon, daß Neurath\IN{\neurath} kürzlich in Wien gehaltener Vortrag\IW{} \uline{beweist}, daß er \uline{weit} davon entfernt ist, den Absolutismus der Protokollsätze aufzugeben, sind meine Gedanken über das Thema jedenfalls viel weiter durchgedacht und ausgeführt als die von Neurath\IN{\neurath}. Im besten Fall ist Neuraths\IN{\neurath} Antiabsolutismus ein frommer Wunsch -- bei mir ist es eine durchgeführte Konsequenz des Systems, des Deduktivismus. \neueseite{} Da es sich aber Ihrer Fragestellung und der ganzen Anlage Ihres Artikels\IC{\protokollsaetze} gemäß (\uline{wie ich einsehe}) nicht anders machen läßt, als daß ich als ,,Verfahren B des Standpunktes \uline{Neurath}\IN{\neurath}`` in die Öffentlichkeit einziehe, so möchte ich Sie doch bitten (und ich glaube damit Ihre eigenen Intentionen zu befolgen), die nachstehenden \begin{center}\uline{Abänderungsvorschläge}\end{center} zu berücksichtigen. 1.) Sie erwähnen auf der letzten Seite, daß ich ,,unabhängig`` von Neurath\IN{\neurath} ,,zu derselben Auffassung gelangt`` bin. Zu dieser Stelle möchte ich später noch etwas bemerken. Hier möchte ich bitten, meine Unabhängigkeit schon früher zu erwähnen, nämlich dort, wo ich auftrete; deshalb: Vorschläge zu Seite\,13: a) Zeile\,17 von unten, bei: ,,Die Möglichkeit\ldots{}`` bitte um einen neuen \uline{Absatz}. \textkritik{(eventuell auch stattdessen beim vorhergehenden Satz.)}\fnA{Hsl.} b) Zeile\,9 von unten: Anstatt ,,Wie mir scheint``,\ldots{} schlage ich etwa folgenden Text vor: ,,Karl \uline{Popper}\IN{\popper} hat sein Verfahren B unabhängig von dem \uline{Neurath}schen\IN{\neurath} Verfahren A entwickelt, mit dem es auch in einigen Punkten in einem deutlichen Gegensatz steht; doch halte ich\fnC{Hsl. \original{Ich berücksichtige, wie Sie sehen, bei diesen Änderungsvorschlägen jenen Standpunkt, von dem ich vermute, daß \uline{Sie} ihn einnehmen, denn der Artikel ist ja von Ihnen!}}\fnA{Hsl.} die Gemeinsamkeiten für wichtiger. Ich sehe in dem von Popper\IN{\popper} vorgeschlagenen Verfahren B eine besonders einfache und zweckmäßige Durchführung der auch von Neurath verfolgten \sout{Programmes:} Absicht: die Verwendung einer einheitlichen\ldots{}`` usw. (Gegen die Klammerbemerkung \fnAmargin{ksl. Notiz} S.\,14, Schluß des 1. Absatzes hätte ich nichts einzuwenden, falls \uline{vorher}, also an der vorstehenden Stelle meine Unabhängigkeit betont wurde.) 2.) Seite\,16, 19.\,Zeile von oben: \uline{Vorschlag}: ,,Bei dem hier dargestellten Verfahren \uline{Poppers}\IN{\popper} (zweite Sprachform, Weg B) können somit -- im Gegensatz zum Verfahren \uline{Neuraths}\IN{\neurath} (Weg A) -- die Protokolle in der Form``\ldots{} \neueseite{} (Begründung: Es muß doch auch erwähnt werden, daß hier ein augenfälliger Unterschied vorliegt.) Nun komme ich zu einer etwas heikleren Stelle: S.\,18/19, die Ausschaltung des ,,Absolutismus``. \uline{Sie} sind überzeugt, die Überwindung des Absolutismus Neurath\IN{\neurath} zu verdanken. Dagegen kann ich natürlich nichts einwenden. Anderseits scheint es mir nach Neuraths\IN{\neurath} Wiener Vortrag\IW{} fast absurd, daß ich ,,zu derselben Auffassung`` wie Neurath gelangt sein soll. Überdies glaube ich, den metaphysischen Absolutismus (der in dem Glauben an eine logisch-formale Auszeichnung von Elementarsätzen oder Protokollsätzen welcher Art immer liegt) in Burgstein noch bekämpft zu haben (unter anderm ja auch in den Wittgensteinkapiteln meines Buches). Ich schlage daher folgende \uline{Abänderung} vor: S.\,18/19: ,,in dem logistischen Positivismus unseres Kreises\II{\schlickzirkel} (in den \ldots{} Carnap\IN{\carnap}) nimmt er -- was insbesondere \uline{Popper}\IN{\popper} mir gegenüber stark betonte -- die verfeinerte Form eines Absolutismus der Ursätze (,,Elementarsätze``, ,,Atomsätze``) an. Die Überwindung dieses Absolutismus ist in erster Linie wohl \uline{Neurath}\IN{\neurath} zu verdanken; \textkritik{auf ganz anderem Weg und unabhängig von ihm}\fnA{Hsl.} ist \uline{Popper}\IN{\popper} in seinen unveröffentlichten Untersuchungen zu einer ähnlichen (und seiner Meinung nach sogar noch weitergehenden) Auffassung gelangt\ldots{}`` \blockade{ksl. Anmerkung} Damit bin ich mit meinen Vorschlägen fertig. Ich hoffe, Sie nehmen mir die Aufrichtigkeit meiner Bemerkungen \textkritik{über mein Verhältnis zu}\fnA{Hsl.} Neurath\IN{\neurath} nicht übel. Aber da Sie meine Mitarbeit wollen, so ist es besser, ich sage Ihnen von Anfang an, was ich denke! Bitte glauben Sie ja nicht, daß ich vielleicht die ganze Veröffentlichung nicht will, oder daß ich vielleicht Ihre Absichten, mich zu fördern, verkenne. \neueseite{} Aber ich möchte, wenn irgend möglich, vermeiden, in meinem Diskussionsartikel\IW{} die Abgrenzung meines Standpunktes gegenüber Neurath\IN{\neurath} allzustark betonen zu müssen. Ich wäre deshalb froh, wenn diese Dinge von Anfang an klarliegen würden. Nun noch zum Schluß eine große Bitte: Ich lege diesem Brief ein Exemplar meines Manuskripts ,,Ein Kriterium des empirischen Charakters theoretischer Systeme``\IW{\popperkriterium} bei (an das Sie sich vielleicht aus Burgstein noch erinnern). Es ist zwar nicht ganz leicht verständlich, weil es eine Zusammenfassung in \uline{knappester} Form ist, deren Tragweite nicht so leicht durchschaubar ist. Dennoch möchte ich Sie sehr bitten, es in der ,,Erkenntnis``\II{\erkenntnis} zu veröffentlichen, -- etwa als ,,Vorläufige Mitteilung`` oder als ,,Zuschrift`` oder dergleichen, und zwar, wenn möglich noch in derselben Nummer, in der Ihr Hinweis auf mich steht. Es ist eine \uline{SEHR kurze} Note, die wohl unschwer Platz finden dürfte. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein paar Zeilen schreiben würden, ob Sie meine Änderungsvorschläge (die ,,persönlichen``) für berechtigt halten. Es grüßt Sie herzlichst} \grussformel{Ihr\\ Karl Popper} \briefanhang{Wien, 22.\,Oktober 1932.\\ \noindent{}XIII., Anton Langerg. 46.} \ebericht{Brief, msl., 7 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808349}{RC 102-59-72}; Briefkopf: \blockade{ksl.}.}