\brief[Neurath an Carnap, Wien, 9.~Oktober 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 9. Oktober 1932}{Oktober 1932}\labelcn{1932-10-09-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Vielen Dank für Deinen Brief und die so nette Frank\IN{\frankphilipp}-Besprechung\IC{\rezensionfrank}. Es wäre mir lieb, wenn Du das Wort ,,wissenschaftliche Weltauffassung`` möglichst nicht verwenden wolltest und statt dessen den Terminus Einheitswissenschaft. Grund: die \gesperrt{meisten} sagen statt Weltauffassung: Weltanschauung. Unangenehm. Nähere Erläuterung erübrigt sich. Eine Weltanschauung kämpft mit anderen. \gesperrt{Weiter}: ,,Welt`` ist doch ein Terminus, den wir nicht legitim verwenden können. Ich verwende das Wort nur noch, wenn ich die Frank\IN{\frankphilipp}-Schlicksche\IN{\schlick} Sammlung\II{\schriftenwisswelt} citiere.\fnEE{Gemeint ist die Reihe \textit{Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung}.} Daß Du mich unter Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} zitierst, ist ja in Ordnung, aber dann würde ich vollständiger sein. Du weißt, ich versuche das zu sein. Wollen wir uns nicht einigen, auf die \gesperrt{große} Nennung und auf eine \gesperrt{kleine} Nennung, so wie bei den Monarchen, wo im großen Titel z.\,B. der König von Jerusalem und der Graf von Habsburg nebeneinander vorkamen. Schlick\IN{\schlick}. Hahn\IN{\hahnhans}. Frank\IN{\frankphilipp}. Neurath\inneurath{}. Carnap\incarnap{}.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{\uline{kleine Nennung}}}.} (Du mußt Dich selbst auch erwähnen!) Eventuell Waismann\IN{\waismann}, von dem halt nichts Rechtes publiziert vorliegt. Und dazu die im kleinen Titel wegfallenden: Feigl\IN{\feigl}, Gödel\IN{\goedel} usw.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{große Nennung}}.} Bitte äußere Dich dazu! Die ,,grupften Händeln``, um mich wienerisch auszudrücken, Ina\IN{\ina} liest Dir das mit kurzem, verschlucktem letzten E vor, sind nicht so ganz ernst. Und der Nichtachtungskomplex ist nur eine Ressentimenterscheinung. Aber immerhin wollen wir ihn liebevoll betreuen. Gel? \neueseite Wenn man alles recht bedenkt, ists so: Durch meinen eigenen Entschluß, meine Herkunft usw. bin ich dem üblichen ,,Leben`` fern. Und nun kann man nicht auf der einen Seite die ,,Bars`` vermeiden, und auf der anderen sich wundern, daß man z.\,B. mit Bühlers\IN{\buehlercharlotte}\IN{\buehlerkarl}, Kaila\IN{\kaila} usw. nie zusammentrifft, was z.\,B. unserem lieben Neider\IN{\neider} mühelos gelingt, wenn er z.\,B. mit Else F\ekl{renkel}\IN{\frenkelelse} oder sonst wem im Smoking oder sonstwie international gekleidet tanzen geht. Ich bin vielleicht auch aus einer Kompensation heraus antimondän. Hab gehungert und hab meinen primitiven Haß, der natürlich längst sublimiert ist in organisiertem Klassenkampf. Und so geht es weiter. Man steht im Kampf mit der Schulphilosophie, man ist ein eliminierter Privatdozent usw.\fnEE{\labelcn{1932-10-09-Neurath-an-Carnap-Habil}1917 habilitierte sich Neurath in Heidelberg (für das Fach ,,Politische Ökonomie``), 1919 wurde ihm die Dozentur wegen seines Engagements in der Münchener Räterepublik aberkannt; vgl. Sandner, \textit{Otto Neurath}, 103--108, sowie Dahms, ,,Otto Neurath, Max Weber und die Revolution von 1919 in Bayern`` und ,,Rudolf Carnap et Otto Neurath``.} Dafür war man bei der Revolution aktiv dabei und heimst die damit verbundenen Solidaritätsgenüsse beim Proletariat mit Recht ein.\fnE{Zu Neuraths Rolle in der kurzlebigen Münchener Räterepublik und den anschließenden Prozeß siehe Sandner, \textit{Otto Neurath}, S.\,122--138.} Wohlige Stimmung in Arbeiterversammlungen. Mir gheren zamm\fnEE{Wiener Dialekt für: ,,Wir gehören zusammen.``} (Ina\IN{\ina} her!). Dafür aber gewisse Fremdheit mit Schlick\IN{\schlick}, vor allem mit seiner Frau\IN{\schlickfrau}, die schwer zu ertragen ist \ldots\ Und daraus natürlich auch geringere Wertschätzung durch die ,,Anderen``. Und das ist mir -- ich sagte es schon offen -- jetzt manchmal unangenehm, wo ich mit jüngeren Leuten zusammenkomme, bei denen ich nicht, wie es sich gehört, von vornherein eine einheitswissenschaftliche Autorität bin, sondern erst \gesperrt{werde}, wenn ich mich äußere. Denn Schlick\IN{\schlick} z.\,B. wird es nicht einfallen, wenn er den Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} nennen würde, neben seinem Waismann\IN{\waismann}, dem vom Heros\IN{\wittgenstein} inspirierten, sagen wir mich zu nennen. Und ich bin nun der Meinung, daß ein wenig der \gesperrt{Prägung} dieses Kreises\II{\schlickzirkel}, auch gedanklich, mir zukommt. Schlick\IN{\schlick} scheint das direkt zu leugnen, wenn er etwa formuliert, was Neuraths\inneurath{} Standpunkt ist. Und nun bin ich, \neueseite{}\zzz überlastet durch andere Arbeit, im Hintertreffen, da ich nicht so gut ziselieren kann wie Du oder Frank\IN{\frankphilipp} oder Schlick\IN{\schlick}. Alles kommt etwas grob heraus. \gesperrt{Und ich weiß das}. Es soll aber dennoch der \gesperrt{gute Kern} verbindend wirken. Ich möchte zu einer Gemeinschaft gehören, bestehend aus: Frank\IN{\frankphilipp}, Hahn\IN{\hahnhans}, Carnap\incarnap{}, Neurath\inneurath{} und einigen jüngeren Leuten, die Einheitswissenschaft treibt. Immer denke ich an irgendeine gemeinsame Publikationsmöglichkeit, für die ich sorgen will. Mundaneum\II{\mundaneum} hat jedenfalls bereits eine Abteilung Einheitswissenschaft und gibt Arbeits\-stipendien. Und es wäre nett, so was auch in Prag zu machen. Und ich möchte nicht immer erst mich \gesperrt{vorstellen} müssen. ,,Sie müssen nämlich wissen, meine einheitswissenschaftlichen Bemerkungen sind nicht ausnahmslos von anderen gemacht.`` ,,Bitte hören Sie auch mir zu.`` Ich \gesperrt{wünsche} einfach, daß man zuhört; so wie man mir bei anderen Dingen zuhört. Und wenn Du ein wenig achtest, so wirst Du sehn, daß eine starke Tendenz der Ausschaltung da ist, die z.\,B. Dir gegenüber \gesperrt{fehlt}. Ich will jetzt nicht all dies dumme Zeug weiter ausführen. Jeder schläft, wie er sich bettet. Und erst Wolkenstürmer sein und dann noch in irdischen Gemächern Tee verlangen ist etwas komisch, das sehe ich ein. Aber sei nett, gel, und schau, daß ich Tee krieg. Es ist so erfreulich, mit der Jugend zu arbeiten, wenn alles wächst. Wir haben jetzt ein ganzes Rudel Buben und Mädel im Mundaneum\II{\mundaneum} zwischen 19 und 26 Jahren.\fnEE{Siehe dazu unten, Brief Nr.~\refcn{1932-11-03-Neurath-an-Carnap}.} Pappenheim\IN{\pappenheim}, Professor der Psychiatrie. Herausgeber des Bech\-te\-rev\fnA{\original{Bechtereff}}.\fnEE{Bechterev, \textit{Allgemeine Grundlagen der Reflexologie des Menschen}.} Sozialdemokrat. Kluger Kerl. Ad Psychologieartikel\IC{\psychologiesprache}.\fnE{Carnap, ,,Psychologie in physikalischer Sprache``.} Schau, es wäre doch denkbar gewesen, wozu Du ein \gesperrt{gutes} Recht gehabt hättest, daß Du Deinen Artikel\IC{\psychologiesprache} überarbeitet hättest. Und selbst wenn Du dann meine bescheidenen Hühner zitierst und nur eine kleine \neueseite{}\zzz Feder von ihnen verwendest, würde jeder meinen \gesperrt{müssen}, wenn mein Artikel\IW{\neurathprotokoll}\fnE{Neurath, ,,Protokollsätze``.} nach Deinem kommt oder im selben Heft, daß ich alle Federchens, es sind ja nicht viele, von Dir habe, und nur Du als der edle Wohltäter mir eins sozusagen zur Verfügung gestellt hast \ldots\ Also daß Du nicht glaubst, ich hätte nur Nichtachtungskomplex. So ähnlich hat mir das, wie ich Dir schon schrieb, einer erzählt. Mindestens scheinen\fnA{\original{scheint}} Schlick\IN{\schlick}, Waismann\IN{\waismann} usw. mich \ekl{so} zu beschreiben. Etwa nach der Devise: Was an ihm richtig ist, ist nicht originell, und was an ihm originell ist, nicht richtig. So gut, so recht, aber bei Wittgenstein\IN{\wittgenstein} wird nie nachgeforscht, welche konventionalistische Fasanen er schon verspeist hat, es versucht niemand anzudeuten, wie weit das Poincar\'{e}\IN{\poincare}, Duhem\IN{\duhem} usw. ist. Ach, eigentlich alles dummes Zeug. Wenn man das sozusagen nicht mit leisen Affekten beladen liest, sondern in Ruhe, da muß das fein aussehn. Und bei Dir kommt das alles noch ins Archiv, so daß man seine eigenen Menschlichkeiten in 20 Jahren, wenn man gerade von einem großen Wurm angefressen wird, noch lesen kann. Oh Carnap. Oh Jugend! So, Finis. Red mr von was gscheidterm.\fnEE{Wiener Dialekt für: ,,Reden wir von etwas Besserem.``} (Ina\IN{\ina} her.) Ich hoffe jetzt rasch die Reichenbachkorrektur\IN{\reichenbach} und Deinen Entwurf zur Erwiderung\IC{\protokollsaetze}\fnE{Carnap, ,,Über Protokollsätze``.} zu kriegen. Uns geht es gut. Wir arbeiten \gesperrt{sehr} viel für die Berliner Ausstellung\II{}, die am 20. eröffnet wird.\fnEE{Diese Ausstellung war nur eine von vielen, die vom \textit{Ge\-sell\-schafts- und Wirtschaftsmuseum} bis 1933 organisiert (oder zumindest bestückt) wurden; vgl. Kraeutler, \textit{Otto Neurath. Museum and Exhibition Work}, 124.} Ich lese brav Psychologie. Und bewundere, wie man die schlichte Gestaltqualität mit der Ganzheitsphilosophie in Verbindung bringt. Gib mir einen Komplex, und ich mach eine Ganzheit draus, ist die Devise. Die Zähre\fnE{Veraltet, poetisch für ,,Träne``.} rinnt. \gesperrt{Tetem}.\fnE{Zu diesem Ausdruck siehe Anm.~\refcn{1930-12-20-Neurath-an-Carnap-Tetem}.} Es ist zum Kotzen, wenn man nicht lachen muß. Und hinter allem steht Hitler\IN{\hitler}. 1931. Hamburger Psychologenkongreß\II{\psychologiekongresshamburg}. Einführungsvortrag.\fnEE{Vermutlich gemeint: Krueger, ,,Die Aufgaben der Psychologie an den Deutschen Hochschulen``.} Da kommt Gott und die Religion vor und \neueseite{}\zzz Urtümlichkeit und deutsches Volk und was Du brauchst, um einem Judensozi das Messer zwischen die Rippen zu schmeißen. Freud\IN{\freudsigmund} ist destruktiv, wie Du Dir denken kannst, man fühlt den Brachtschen Badeerlaß und hört förmlich, wie der Mann nach dem ,,Zwickel`` schreit,\fnEE{Der sogenannte ,,Zwickelerlass`` des kommissarischen preußischen Innenministers Franz Bracht vom September 1932 schrieb aus Sittlichkeitsgründen das Aufnähen eines zusätzlichen Stücks Stoff (eines ,,Zwickels``) in den Schritt der Badehosen vor.} den er braucht, damit sein Teutscher Unwille nicht das lasterhafte Weib im strahlenden Körper hinwegfegen muß \ldots\ Oh Carnap\incarnap{}! Oh Welt! Leb wohl! Auf Wiedersehn! Alles Gute allen Guten. Es lebe die Einheitswissenschaft} \grussformel{Dein\\O} \ebericht{Brief, msl., 5 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828460}{RC 029-12-24}; Briefkopf: msl. \original{Wien. XII. Arndtstraße 1. Stiege 17.} und \original{9.~Okt. 1932}.}