Rudolf Carnap an Bernhard Bavink, 5. Oktober 1932 Oktober 1932

Lieber Herr Kollege!

Besten Dank für Ihren Brief und für die freundliche in Aussicht gestellte Zusendung von Heft 8IUnsere Welt, Zeitschrift (es ist noch nicht gekommen).

Darf ich Ihre Bemerkung, daß Sie gegenwärtig die Neuauflage Ihres BuchesBBavink, Bernhard!1930@Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Leipzig, 1930 bearbeiten, zum Anlaß nehmen, um darauf aufmerksam zu machen, daß verschiedene Formulierungen unsrer Auffassungen (d. h. des Wiener KreisesISchlick-Zirkel, Wiener Kreis) nicht gut stimmen?1könnte auch . sein Da ich (wie ich Ihnen schon schrieb) aus Ihren BerichtenB in U[nsere] W[elt]IUnsere Welt, Zeitschrift über meine AufsätzeB sehe, daß Sie auf besonders sorgfältige Formulierung der gegnerischen Ansichten großen Wert legen, so nehme ich an, daß es Ihnen recht ist, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache. Bes. S. 226 oben ist uns eine Behauptung zugeschrieben, die wir gewiß nicht aufstellen möchten, sondern ganz ablehnen würden. Das Gleiche gilt für die Formulierungen S. 225 unten, die sich aber vielleicht nicht auf uns beziehen sollen. Zu S. 564, Anm. 23 möchte ich bemerken, daß FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl und wir alle den Konszientialismus ablehnen. Ähnliches gilt für mehrere andere Stellen (ich finde gerade noch S. 214 „es gibt in der Natur in Wahrheit kein Brechungsgesetz“); mir scheint daher, daß derjenige Punkt in unsrer Auffassung, der sich gegen den Realismus wendet (oder von diesem abweicht) nicht genau wiedergegeben ist. Ich glaube, daß SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Aufsatz „Positivismus“BSchlick, Moritz!Positivismus und Realismus. In: Erkenntnis, 3 (1932). S.1-31 am besten geeignet ist, die Sache klarzustellen. Ferner glaube ich, daß FranksPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank Buch „Kausalgesetz“BFrank, Philipp!1932@Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Wien, 1932 für die Darstellung unsrer naturphilos[ophischen] Auffassungen bes. wichtig ist. Aber da es ziemlich umfangreich ist, wird Ihnen vielleicht leider die Zeit fehlen, es jetzt zu verwerten.

Über Graz weiß ich nicht Bescheid; ich würde meinen, daß dort MallyPMally, Ernst, 1879–1944, öst. Philosoph und SiegelP sind.

Bitte grüßen Sie Ihre Frau (mir kommt vor, wir hätten uns 1918 in Westend gesehn, aber ich weiß es nicht mehr genau) und Lene v. StackelbergPStackelberg, Helene von, 1895-1964, geb. Lohmann, auch Lene, dt. Ärztin, Schwägerin von Bernhard Bavink, heiratete 1920 Traugott von Stackelberg, aktiv in der Freideutschen Bewegung, falls sie noch dort ist.

Mit bestem Gruß (antworten Sie jetzt nicht, ich weiß, wie knapp Ihre Zeit ist)

Ihr
ksl.

Brief, msl. Dsl., 1 Seite, RC 028-04-02; Briefkopf: msl. Prag, den 5. Okt. 1932  /  Herrn Prof. B. Bavink  /  Bielefeld.

Im Anschluss kurzschriftliches MS 24.1.32 „Zu Bavink. Ergebnisse“ (RC 028-04-03); scheint transkribiert worden zu sein; findet sich unter gleicher Sig. msl.; die Sprache ist manchmal fehlerhaft. Stillschweigende Korrektur, wenn klar wie.

Zu BavinkPBavink, Bernhard, 1879–1947, dt. Physiker und Philosoph, ErgebnisseBBavink, Bernhard!1930@Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Leipzig, 1930

24.1.32.

Ausgezeichnete Darstellung der verschiedenen Theorien; empfehle den Studenten. Mir scheint: Unterschied sehr groß in Metaphysik. Darüber Aufsatz (SA??). Entgegnung in ErkenntnisIErkenntnis, Zeitschrift?? Aber daran rührt Ihr BuchBBavink, Bernhard!1930@Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Leipzig, 1930 ja nur stellenweise, (mehr aber die Aufsätze.)

Die Unterschiede in ErkenntnistheorieB sind dagegen nicht so groß, wie es Ihnen scheint. Ich vermute, daß da häufig Mißverständnisse vorliegen. (Ich hoffe, SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick hat auf Ihren Brief vom Mai geantwortet; ist nach Amerika, hat die Absicht zu antworten.)

Bei manchen Ihrer Behauptungen (z. B. 214 „Die Existenz der Universal[ien] in [unleserlich]“;

Glauben Sie, wir würden Sie bestreiten; oder Sie nehmen an, wir behaupteten etwas (z. B. Seite 214 „Es gibt in der Natur in Wahrheit gar kein Brechungsgesetz“. 🕮

Während wir weder jene Ihrer Behauptungen bestreiten noch diese uns wiedergeschriebenen [sic] Behauptungen aufstellen, weil wir beide für sinnlos halten. D.h. wir vermögen nicht Stellung zu nehmen, weil wir beide Thesen überhaupt nicht zu verstehen vermögen.

Bei manchen Ihrer Behauptungen (z. B. Seite 214. „Es läßt sich nicht eliminieren, daß hierbei gerade in der Gesamtheit der wirklichen Fälle ein Etwas liegt, das uns einfach aufgenötigt wird“. S. 216 „…, daß diese Übereinstimmung gerade nicht durch seine subjektive Methode, sondern eben ganz allein durch das Objekt selber erzwungen sind“. (Die folgende Formulierung „Voraussetzung der Existenz der Wahrheit“ würde uns nicht als glücklich erscheinen).

von denen Sie glauben, daß wir widersprechen, sind wir durchaus Ihrer Meinung. „Unsere Welt“ beziehe ich seit dem Sommer. Ihre Charakteristik über die neuesten Fortschritte aller Zweige der Naturwissenschaften ist bewundernswert. Von den Aufsätzen lese ich besonders Ihren Trotz der [unleserlich] immer gern. Obwohl unsere Auffassungen sicherlich oft nicht nur Ihren Verstand sondern Ihrem Gefühl häufig zusetzt, sind Ihre Gegenäußerungen stets von vorbildlicher Sachlichkeit.

1931, S. 186. „Die Substanz der Welt ist das Seelische“ ist ebenso sinnlos wie der Dualismus.

S. 343. „SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Versuche, den Determinismus trotz HeisenbergPHeisenberg, Werner, 1901–1976, dt. Physiker zu retten“ ist arges Mißverständnis!

a) entweder meint „Determinismus“, daß die physikalischen Gesetze eindeutig bestimmen (LaplacePLaplace, Pierre-Simon, 1749–1827, fr. Physiker und Mathematiker) \(F\); dann ist der Determinismus durch HeisenbergPHeisenberg, Werner, 1901–1976, dt. Physiker widerlegt; das sagt SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick doch ausdrücklich an verschiedenen Stellen. \(\phi \)

b) oder „Determinismus“ soll heißen \(P\), dann wollen wir diese These nicht retten, sondern lehnen sie ebenso wie die Gegenthese von der Willensfreiheit als sinnlos ab. 🕮

(\(F\) anscheinend ist das hier gemeint; denn sie fahren fort „die klassische Physik ist deterministisch‚…“)

(\(P\) „Willensgebundenheit“; so wird das Wort weiter unten erläutert.)

\(\phi \) In der „Naturphilosophie“ von 1925, S. 461 „…das die Verfechter einer metaphysischen „Willensfreiheit“ keinen Grund haben würden, sich über ein solches Scheitern der deterministischen Auffassung zu freuen‚…“

S. 222 zitieren Sie zustimmend meine Auffassung, daß die Physik neutral gegenüber dem Gegensatz Realismus – Positivismus ist. Inzwischen sind wir alle (seit etwa 1927) noch radikaler geworden und würden diesen Gegensatz nicht nur in der Physik nicht, sondern überhaupt nicht mehr als sinnvoll anerkennen. Obwohl Sie das stellenweise richtig berichten, gehen doch, wie mir scheint, zuweilen Mißverständnisse von Ihnen in die Richtung, als würden wir gewisse Ihrer Thesen bestreiten (d. h. die bestrittene Negation behaupten), wo wir in Wirklichkeit weder die These noch die Antithese behaupten, weil wir mit beiden keinen Sinn verbinden können. Wir bestreiten nicht Ihre These, daß hinter der Erfahrung die wahre Welt der Physik liegt, daß die Universalen in [unleserlich] existieren; genau so wie die These des Realismus lehnen wir auch die entgegengesetzte des [unleserlich] ab (daher Ihr Urteil über FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl S. 564, Anmerkung 23 unzutreffend), und doch Unterschied zwischen der antirealistischen These des früheren Positivismus und unserer Ablehnung beider Thesen als sinnlos (nicht falsch!); vielleicht lieber „methodischer Positivismus“. 🕮

Mißverständnis: S. 226: Die wissenschaftlichen Aussagen sprechen nicht über die Wirklichkeit, sondern über unsere Bezeichnungen wirklicher Dinge.

Zu philosophischer Analyse II 16. Also auch ich würde Ihre Intelligenzprüfung leider nicht bestehen; denn ich vermag die Frage „Wie denn aus den Schallwellen eine Tonempfindung wird“ tatsächlich nicht zu verstehen. Ich weiß nicht, was es heißt, „etwas wird aus etwas“.

Abschrift Ks., msl., 4 Seiten, RC 028-04-03.


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