\brief[Neurath an Carnap, Wien, 1.~Oktober 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 1. Oktober 1932}{Oktober 1932}\labelcn{1932-10-01-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Ich bitte einigermaßen drängend, mir die Korrektur meines Artikels\IW{\neurathprotokoll} bald zu senden.\fnE{Neurath, ,,Protokollsätze``.} Ich muß vielleicht noch vor Mitte Oktober nach Moskau fahren und habe es nicht sehr gern, dort meine Ideologien zu erledigen. Ich bin dort ein technischer Spez\ekl{ialist} und enthalte mich aller Argumentationen, die dort im allgemeinen nur zu Differenzen führen. Wenn heute nicht, so morgen, wenn eine Änderung der Linie eintritt. Ich sehe das alles ein. Aber ich ziehe daraus eben die Konsequenz der ideologischen Abstinenz auf alle Fälle und Konzentration auf \gesperrt{Technik}. ,,Hoffentlich`` im nächsten Heft klingt reichlich unbestimmt. Übrigens könnte der Artikel\IW{\neurathprotokoll} auf alle Fälle sofort \gesperrt{gesetzt} werden. Ich möchte nicht wieder erleben, daß mein Protokollsatzartikel\IW{\neurathprotokoll} ,,hinter`` oder ,,neben`` Deinem Artikel\IC{\protokollsaetze} erscheint, in dem Du -- was ja sehr erfreulich sein wird -- den Faden weiterspinnst, womöglich besser spinnst. Aber die schiefe Situation ist mir nicht angenehm. Das mußt Du begreifen. Wir haben, glaube ich, an einem Mal genug.\fnE{Vgl. dazu oben, insbesondere Brief Nr.~\refcn{1932-01-25-Neurath-an-Carnap}, \refcn{1932-02-17-Nerath-an-Carnap} und \refcn{1932-03-02-Carnap-an-Neurath}.} Und da die Menschen in diesen Zeitläufen offenbar etwas ressentimentlüsterner sind als sonst, müssen wir die entsprechende Prophylaxe ausüben. Es wäre mir lieber gewesen, der Artikel über die Protokollsätze\IW{\neurathprotokoll} wäre mit Deiner sicherlich entzückenden Antwort\IC{\protokollsaetze} gleichzeitig mit den anderen Erwiderungen\IC{\erwiderung} erschienen. Ach Zilsel\IN{\zilsel}! Jetzt liest er nicht nur über die neue Philosophie von uns, sondern auch über -- \gesperrt{Ethik}.\fnEE{Im Wintersemester 1931/32 hielt Zilsel den Volkshochschulkurs ,,Fragen der Moral``; Zilsels Lehrtätigkeit an Wiener Volkshochschulen ist dokumentiert in Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 805--817.} Ich fürchte Schlimmstes. Besonders bei seiner Wertschätzung \neueseite{}\zzz für Schlicks\IN{\schlick} Ethik\IW{\schlickethik}.\fnE{Schlick, \textit{Fragen der Ethik}.} Apropos Schlick\IN{\schlick}. N\ekl{eider}\IN{\neider}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Neider}}.} berichtet, daß er tief erschüttert und enttäuscht W\ekl{ittgenstein}s\IN{\wittgenstein}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Wittg\ekl{enstein}}}.} Expressionen zur Kenntnis nahm.\fnE{\labelcn{1932-10-01-Neurath-an-Carnap-Plagiat}Gemeint sind die massiven Plagiatsvorwürfe Wittgenstein anlässlich des Erscheinens von Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``; siehe vor allem Ludwig Wittgenstein an Moritz Schlick, 8.~August 1932, RC 102-78-11, sowie Ludwig Wittgenstein an Rudolf Carnap, 20.~August 1932, RC 102-78-03. Weiters vgl. dazu Hintikka, ,,Ludwig's Apple Tree``, und Stern, ,,Wittgenstein, the Vienna Circle, and Physicalism: A Reassessment``.} Ja, wenn der Heros zu uns Sterblichen herabsteigt und an der Wasserleitung Streit anfängt \ldots\ Heu me miserum.\fnE{Vgl. oben, Brief Nr.~\refcn{1932-09-23-Neurath-an-Carnap}, Anm.~\refcn{1932-09-23-Neurath-an-Carnap-Heu}.} Daß wir Menschen derlei tun, ist ja traurig genug, aber der Göttliche. Wenn so die ganze übersteigerte Asozialität hervorbricht. Selbst erklären, daß alles \gesperrt{völlig} abgeschlossen vorliegt, selbst niemanden zitieren,\fnEE{Vgl. Wittgenstein, \textit{Tractatus logico-philosophicus}, Vorwort.} ein Einsamer auf den Firnen wandelnd\fnA{\original{wandeln}} -- und dann nicht durchhalten können \ldots\ Ja, so sehen unsere ,,aristokratischen`` Naturen aus. Was alles durch die jüdische Abkunft noch einen besonderen Schmelz erhält. Aber wahrscheinlich ist er mehr zu bedauern. Wie nett könnte Wittgenstein\IN{\wittgenstein} unter uns leben, wie einer von uns. Er wäre so verwöhnt worden. Gel? Statt dessen ist der der Gott und Waismann\IN{\waismann} sein armer Prophet. Der kommt mir immer vor wie die Märchenfiguren, die hin- und hergeschupft werden: Perlike, Perloke! Und jedesmal müssen die Geisterchen hin und her hüpfen, bis sie erschöpft zusammenbrechen. Armer Waismann\IN{\waismann}. Da hat sich das richtige Paar gefunden. Und man könnte so nett miteinander leben. Gelegentliche Exzesse werden auch überwunden, wie man an uns mit Befriedigung feststellen kann. Meine Bonzenressentiments werde ich los, wenn ich schlechte Witze über Deine sonore Stimme und Deinen würdigen Habitus mache, oder wenn ich mich hoch über Schlick\IN{\schlick} erhaben dünke, weil der Arme kein Marxist ist. Kurzum, man hat so seine Auswege. Gel? Ich bin sehr, \gesperrt{sehr} froh, daß Du endlich diese eklige ,,Philosophie`` hinausgeschmissen hast\labelcn{eklealteperson} und nicht dem strammen Lebewesen, das wir gezeugt haben, diesen verdreckten Namen einer eklen alten Person gegeben hast, die ja, als sie jung war, ihre Meriten gehabt haben mag. ,,Semantik`` wird heulend \neueseite{}\zzz zur Kenntnis genommen. Also, Herzberg\IN{\herzberg} schrieb mir nett, daß man mich gerne sprechen\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Vortrag in Berlin}}.} lasse, wenn es pekuniär gehe. Ich habe mit leichter Geste erklärt, daß ich an alles gewöhnt bin, von Null bis 100 Mark plus Reise. Er möge nach freier Wahl entscheiden. ,,Grundprobleme des Physikalismus``\IW{\neurathphysikalismusvor}.\fnEE{Gehalten am 21.~Februar 1933 in Berlin in der \textit{Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie}.} Das muß sorgsam vorbereitet werden, damit jeder Gelegenheit hat, ausreichend Ärgernis zu nehmen, ohne daß der Vortrag zu witzig und zu ausgelassen wird. Denk doch, was man für schöne Kapriolen unser physikalistisches Pferd machen lassen kann. Es kommt mit einem Sprung über ,,Natur- und Geisteswissenschaften``, frißt keinen naturphilosophischen Hafer und keine geisteswissenschaftliche Melasse, sondern nur einheitswissenschaftliche goldene Gerste. Sinnleere Reifen werden der Reihe nach aufgestellt, elegant werden psychoanalytische Flaschen abgegangen, wobei man acht geben muß, daß unser Zirkusroß nicht ins Metaphysische tappt. Ich lese schon fleißig ,,Totem und Tabu``.\fnEE{Freud, \textit{Totem und Tabu}.} Ich plane irgend eine zusammenfassende Darstellung über Physikalismus. ,,Einheitswissenschaft``, nicht ,,Theorie der Einheitswissenschaft``. Was wird denn aus unserer gemeinsamen Publikation bei Meiner\II{\meinerverlag}\IN{\meinerfelix}? Laß mal was hören. So, jetzt muß ich aber wieder was arbeiten. Grüß mir Inen\IN{\ina}, grüß mir den grünen Blick aus Eurem Fenster. Schreib bald, was Nettes,} \grussformel{Deinem Dich grüßenden\\N} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828448}{RC 029-12-29}; Briefkopf: msl. \original{Wien. XII. Arndtstraße 1. Stiege 17.} und \original{1.~Okt. 1932}.}