\brief{Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 28. September 1932}{September 1932} %Prag, den 28. September 1932. \anrede{Lieber Schlick!} \haupttext{Besten Dank für Deinen Brief und die Bescheinigungen. Ich bin sehr erfreut zu hören, daß Du Dich inzwischen wirklich gut erholt hast und die schöne Zeit jetzt in Südtirol wird Dir auch sicher noch sehr guttun. Wittgenstein\IN{\wittgenstein} hat mir nicht nur die Abschrift seines Briefes an Dich vom 8.\,Aug. geschickt, sondern dabei auch einen Brief an mich, von dem ich Dir eine Abschrift beilege.\fnE{Die Abschrift fehlt im Nachlaß; es handelt sich um den Brief v. 20.8.1932.} Ich muß gestehen, daß mir die sachliche Frage, ob ich mich in den betreffenden Punkten an W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} anlehne oder nicht, und ob ich ihn hätte nennen sollen oder nicht, viel weniger zu Herzen geht, als dies Neue, was in W[ittgenstein]'s\IN{\wittgenstein} Briefen zum Vorschein kommt, und was mich wirklich sehr bedrückt: der Ton der Briefe, die menschlichen Züge, die sich hier zeigen. Ich vermute, daß es Dir auch so geht. Ich möchte aber doch noch einige Bemerkungen zu der sachlichen Frage machen. Ich habe auf Deinen ersten Brief hin mich ernstlich bemüht, nachzuprüfen, ob ich W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} vielleicht durch die Nichtnennung ein Unrecht getan habe.\fnE{1932 hatte Schlick in Gmunden mit Margarete Stonborough ein Gespräch, in dem es um die ,,Verstimmung`` zwischen Wittgenstein\IN{\wittgenstein} und Carnap\IN{\carnap} sowie -- das ist von Schlicks\IN{\schlick} Charakter her jedenfalls mit Sicherheit anzunehmen -- um eine mögliche Lösung des Konflikts ging (persönliche Mitteilung von J. J. Stonborough an M.I., 18.9.1995).} Wäre ich zu der Überzeugung gekommen, daß das so ist, so hätte ich nicht gezögert, die Sache persönlich und bei geeigneter Gelegenheit auch öffentlich wieder gutzumachen. Aber ich habe mich nicht davon überzeugen können, auch nicht nach Wittgensteins\IN{\wittgenstein} Briefen. Ich glaube, daß die von W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} genannten Einzelpunkte meines Aufsatzes nicht von ihm stammen, sondern nur die allgemeine Grundlage. Auf der ersten Seite, wo von dieser allgemeinen Grundlage die Rede ist, hatte ich im ursprünglichen Entwurf (vor zwei Jahren in Biberwier geschrieben) bei Erwähnung der Entwicklung der neueren Logik und der logischen Analyse der Sprache Frege\IN{\frege}, Russell\IN{\russell}, Whitehead\IN{\whitehead} und Wittgenstein\IN{\wittgenstein} genannt. Ich habe das später gestrichen, damit die Leser die in der weiteren Abhandlung dargelegten Auffassungen, vor allem den Physikalismus, nicht jenen Logikern zur Last legen. Ich habe dann dort ausdrücklich geschrieben: ,,Über die Philosophie und die Formalwissenschaften soll nur kurz gesprochen werden. Die hier vertretene Auffassung in diesem Punkt ist schon mehrfach von Anderen dargestellt worden.`` Kein Leser wird hiernach denken, daß ich in dem Wenigen, was ich über Philosophie, Logik und Mathematik sage (es ist nur 1 Seite), Anspruch auf Priorität erhebe. Aus welchen Quellen diese Auffassungen stammen, ist den Lesern der Erk[kenntnis]\II{\erkenntnis} hinreichend bekannt. Zu den einzelnen Punkten: \begin{enumerate} \item Ich finde im Tractatus\IW{\tractatus} keine deutliche Äußerung zum Physikalismus. Ja ich weiß bis heute noch nicht, wie W[ittgenstein]'s\IN{\wittgenstein} Auffassung hier ist, da Waismann\IN{\waismann} ja nicht deutlich Stellung genommen hat, sondern nur sagte, daß er (und W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein}) gewisse Bedenken haben, ohne sie jedoch formulieren zu können. \item Ich erinnere mich unbestimmt, daß in Gesprächen mit Waismann\IN{\waismann} auch von Definitionen die Rede war, habe aber keine Ahnung mehr davon, was er über W[ittgenstein]'s\IN{\wittgenstein} Auffassung von den hinweisenden Definitionen gesagt hat; ich sehe nur, daß Waismann\IN{\waismann} in seinen Thesen, die doch als Darstellung von W[ittgenstein]'s\IN{\wittgenstein} Auffassung gelten, S.\,16 sagt: ,,Wir können einem Zeichen auf zwei Arten Bedeutung geben: 1. durch Aufweisung, \ldots{} indem wir \ldots{} auf die entsprechende Tatsache hinweisen, 2. durch Definition. Die Definition verbleibt innerhalb der Sprache. Die Aufweisung tritt aus der Sprache heraus \ldots{} . Die Definition kann in der Sprache ausgedrückt werden, die Aufweisung nicht.`` Ich vertrete (S.\,435 f.) die gegenteilige Auffassung und gebe ein Beispiel an, das auch die sog. Definition durch Aufweisung innerhalb der Sprache verbleibt und keinen Hinweisungsakt erfordert. \item Hypothesen. W[ittgenstein]'s\IN{\wittgenstein} (von Dir in ,,Naturwiss.``\IW{} \II{} angegebene) Auffassung, daß die Hypothesen nicht Sätze, sondern Anweisungen zur Bildung \neueseite{} von Sätzen seien, vertrete ich doch gerade \uline{nicht}. Was ich über Hypothesen sage, scheint mir nur eine deutlichere (nämlich semantische, auf die Ableitungsverhältnisse bezogene) Formulierung dessen zu sein, was in ähnlicher Weise auch schon von Poincar\'{e}\IN{\poincare} und Duhem\IN{\duhem} gesagt worden ist. (Ich finde übrigens gerade in einem MS-Teil der Semantik vom Februar dieses Jahres zu diesem Punkt diese beiden Namen genannt.) \item Formale und inhaltliche Redeweise. Hier scheint W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} mich mißverstanden zu haben. Zum Teil durch meine Schuld, weil diese Begriffe nur kurz erläutert werden. In meinem Buch werde ich sie ausführlicher behandeln und dann auch darlegen, daß meine Auffassung in diesem Punkt eine Ablehnung der Auffassung von W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} bedeutet. (Im Allgemeinen werde ich aber mit polemischen Bemerkungen möglichst sparsam sein.) Mit der Metaphysik der Physiker hat das nichts zu tun. -- \end{enumerate} Sicher langweilt Dich die Erörterung dieser Punkte schon. Mich auch. Was uns nahegeht, ist die ganz andere Frage: Wie ist W[ittgenstein]'s\IN{\wittgenstein} Überempfindlichkeit und Heftigkeit zu erklären? Ich verstehe, daß Du hier vor Rätseln stehst. Aber ich muß mich bemühen, seine Einstellung irgendwie psychologisch zu deuten, um über das Bedrückende und Beunruhigende hinwegzukommen und nicht in Gegenaffekte und Gegenvorwürfe \sout{kommen} zu geraten. Wenn ich die Geringfügigkeit des Anlasses und die Heftigkeit der Reaktion betrachte, so komme ich zu der Vermutung, daß bei W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} eine starke persönliche Abneigung gegen mich besteht, für die der vorliegende Anlaß nur die Auslösung ist, um nach langer Aufstauung plötzlich mit umso größerer Intensität hervorzubrechen. Denn bloß aus der sachlichen Situation heraus wäre die Heftigkeit seiner Vorwürfe nicht zu verstehen, auch wenn er Recht damit hätte, daß die erörterten Punkte von ihm stammen. Das wäre sicher kein hinreichender Grund, seinen Zorn gerade gegen mich zu wenden. Der vorliegende Aufsatz\IC{} ist mein vierter in der ,,Erkenntnis``\II{\erkenntnis}; in den drei vorhergegangenen habe ich W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} genannt; auch in Vorträgen, Vorlesungen und Privatgesprächen habe ich unzählige Male auf ihn hingewiesen; ich glaube, ich bin derjenige, der außer Dir am stärksten auf W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} aufmerksam gemacht hat. Für die Vermutung, daß bei W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} eine rein persönlich bedingte Einstellung vorliegt, spricht auch sein ungleiches Verhalten Dir und mir gegenüber: in Deinem Aufsatz über Positivismus\IW{\schlickpositivismus}\fnE{M. Schlick: Positivismus und Realismus. -- In: Erkenntnis, 3 (1932/33). -- S. 1 -- 31.} hast Du ja sehr viel ausführlicher als ich in meinem Aufsatz die im wesentlichen auf W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} zurückgehenden allgemeinen Auffassungen (Sinn, Verifikation, Naturgesetze) dargelegt; wenn ich recht sehe, hast Du ihn nicht (oder wenigstens an mehreren entscheidenden Stellen nicht) genannt (was ja auch gar nicht nötig \sout{ist} war, nachdem Du und ich in mehreren vorhergegangenen Aufsätzen auf W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} hingewiesen hatten). Gegen Dich scheint er keine Vorwürfe zu empfinden, gegen mich aber die heftigsten Affekte. Um seine Abneigung gegen mich zu verstehen, versuche ich mich an die Zeit zu erinnern, als ich noch mit ihm zusammenkam (Sommer 1927 oder 1928). Es zeigten sich da zuweilen sehr starke Gegensätze zwischen uns, nicht so sehr in theoretischen Ansichten, als in praktischen und gefühlsmäßigen Einstellungen. Er als Künstler sah in mir einen pedantischen Rationalisten, der das Lebendige vergewaltigen will (erinnere Dich an die scharfe Ablehnung des Esperanto, das Du unvorsichtigerweise mehrmals zur Sprache brachtest), und einen flachen Verächter der erhabenen Dinge (ich glaube, ich sagte etwas gegen Schopenhauer\IN{\schopenhauer}, was ihn sehr aufbrachte; und ich fand viel Gefallen an der überlegenen und zuweilen ironischen Art von Russell\IN{\russell} in ,,What I believe``\IW{\russellwhatibelieve}\fnE{B. Russell: What I believe. -- In: Ders.: Living Philosophies. -- New York, 1931. -- S. 9 -- 19 (Russell behauptet, daß kein Gehorsam gegen moralische Regeln die Liebe ersetzen könne, und daß, wo die Liebe echt ist, sie vereinigt mit Intelligenz, genügen werde, alle notwendigen moralischen Regeln hervorzubringen.)}, während er diesem Buch Oberflächlichkeit vorwarf). Schließlich ließ er mir durch Dich oder Waismann\IN{\waismann} sagen, daß er nicht mehr mit mir sprechen könne; das müssen wir mit all dem Andern zusammen heute doch wohl als Anzeichen persönlicher Abneigung deuten. Daß aus Abneigung heftige Ablehnung werden muß, ist \neueseite{} bei seiner Impulsivität und Entschiedenheit aller gefühlsmäßigen Einstellungen verständlich. Vielleicht spielt auch ein Rivalitätsgefühl mit, ich weiß es nicht. Jedenfalls wäre es unbegründet, bei der Hochschätzung und Verehrung, die W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} in unserm Kreis\II{\schlickzirkel} genießt. Das alles genügt aber doch noch nicht zur Erklärung dafür, daß W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} bei seiner Wendung gegen mich einen so unfreundlichen und verletzenden Ton annimmt. So spricht nur ein Mensch, dem es nicht gut geht. Damit meine ich nicht nur seine Nervosität, die wahrscheinlich jetzt durch Überarbeitung noch gesteigert ist (die neurotischen Züge in seinen Briefen sind ja deutlich und erschreckend). Ich meine, es muß ihm menschlich irgendwie schlecht gehen. Mehr ist darüber wohl nicht zu sagen. An W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} habe ich nicht über die Sache geschrieben, nur mit einer Zeile den Empfang seines Briefes bestätigt. Eine ruhige Erörterung mit ihm ist ja ausgeschlossen. Ich weiß nicht, ob man hoffen kann, daß er später bei ruhiger Besinnung zu einer andern Einstellung kommt. Wenn Du wünscht, ihm etwas aus diesem Brief mitzuteilen, habe ich natürlich nichts dagegen. Antworte nicht ausführlich. Du sollst Dich jetzt erholen und nicht lange Briefe schreiben. Hoffentlich bringt der Brief Dir nicht durch Wiederaufrollen des Ganzen neue Beunruhigung; ich möchte im Gegenteil wünschen, daß die ruhige Betrachtung der Sache den scharfen Stachel nimmt, den sie ja sicher auch für Dich hat. Wenn Du ganz kurz in wenigen Zeilen mir etwas über Deine Einstellung schreiben kannst, würde ich mich freuen. Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen} \grussformel{Dein\\ Carnap} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870809}{MS 95/Carn-32 (Dsl. RC 029-29-04, Kopie RC 029-29-03)}; Briefkopf: msl. \original{Prag, den 28.\,September 1932}.}