\brief[Neurath an Carnap, Wien, 23.~September 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 23. September 1932}{September 1932}\labelcn{1932-09-23-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Grüße wurden ausgerichtet, auch die Inas\IN{\ina}, und sinnvoll erwidert. Korrekturabzüge\IW{\dunckerentgegnung}\IW{\zilselbemerkungen}\IC{\erwiderung}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Duncker, und: Erwiderungen auf Duncker und Zilsel}}.} wurden durchstudiert.\fnE{Duncker, ,,Behaviorismus und Gestaltpsychologie``; Zilsel, ,,Bemerkungen zur Wissenschaftslogik``; Carnap, ,,Erwiderung auf die vorstehenden Aufsätze von K. Duncker und E. Zilsel`` (die beiden Erwiderungen wurden erst später in einem Text vereinigt).} Ich habe auf der Fahrt allerlei drangeschrieben -- mit Bleistift, also entfernbar. Hoffentlich verletze ich damit nicht die Heiligkeit erborgter Dinge. Wenn ja, solls nimmer vorkommen. Verzeihung wird erbeten. Neider\IN{\neider} kommt heute auf einen Sprung. Er berichtete bereits im Telephon von Schlicks\IN{\schlick} Enttäuschung und Verzweiflung über den Heros\IN{\wittgenstein}.\fnEE{Gemeint ist Wittgenstein und dessen Vorwurf, Carnap habe ihn in ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft`` plagiiert. Der für diese Affäre relevante Briefwechsel ist publiziert in Iven, ,,Er ,ist eine Künstlernatur von hinreissender Genialität\grq\grqq; vgl. dazu Hintikka, ,,Ludwigs Apple Tree: Evidence concerning the Philosophical Relations between Wittgenstein and the Vienna Circle``, sowie Stern, ,,Wittgenstein, the Vienna Circle, and Physicalism: A Reassessment``.} Ja, ja, wenn wir Menschen menschlich sind, ists übel genug, wenn aber die aufgeblasenen Heroen auch menschlich sind, wehe denen, die der Aufgeblasenheit huldigten. Sie müssen nun Leid tragen. Man mache ihnen die Last leicht. Aber meist sind die Heroenkult Treibenden keine Marxisten. Wer soll sie trösten? Die Semantik? Die Motivations\-psychologie? Wir Wissenden versuchen eine ungenügend befriedigte Sehnsucht nach Prügelndürfen aus früher Kindheit zur Erklärung heranzuziehen, überkompensierten jüdischen Adelsstolz mit Minderwertigkeitskomplex oder derlei \ldots\ aber wie soll Schlick\IN{\schlick}, der arme, seinen Heros\IN{\wittgenstein} deuten? Heu me miserum,\fnE{\labelcn{1932-09-23-Neurath-an-Carnap-Heu}Lateinisch für: ,,Wehe mir!\grqq\ oder auch ,,Ich Unglückliche/r!\grqq} muß er rufen, und das Echo ruft Antwort. So. Der Duncker\IN{\duncker}\IW{\dunckerentgegnung} ist aber ein magerer und verdrehter Knochen. Er hat nicht einmal den Rand der Debatte erfaßt. Aber auch unser Zilsel\IN{\zilsel}\IW{\zilselbemerkungen} ist nicht erquicklich. Eh schon wissen. \neueseite Bin furchtbar neugierig, was Du zu meinen Bemerkungen\IW{\neurathprotokoll} zu sagen hast.\fnE{Neurath, ,,Protokollsätze``.} Ich schrieb Meiner\IN{\meinerfelix} einen Eilbrief, er soll die Sache \gesperrt{sofort} senden, auch Dir.\footnoteC{Soll ich schon wieder Sabotage vermuten? Vermuten, daß R\ekl{eichenbach}\IN{\reichenbach} meine Erwiderung \gesperrt{nicht} zusammen mit den beiden anderen, zu denen sie gehört, abdrucken will? Um sie zu verzögern? Nein, wir wollen harmlos das Kommende erwarten. Daß Du gewappnet bist, jedem Vorwand zu begegnen, nehme ich an. Hast Du R\ekl{eichenbach}\IN{\reichenbach} und M\ekl{einer}\IN{\meinerfelix} mitgeteilt, daß meine Erwiderung zu setzen ist\IW{\neurathprotokoll}? Sonst wird das als Vorwand gebraucht oder sonst was. Und zwar so spät, daß man womöglich einen Anlaß hätte, nicht mehr zu setzen usw. usw. Du siehst, welche Argwohnmassen man auf alle Fälle in Reserve hat.} Wir müssen öfter unsere Probleme erörtern. Die ,,Semantik`` finde ich noch immer nicht glücklich. Logische Syntax\IC{\logischesyntax} ist menschlicher. Aber immerhin, der von Ina\IN{\ina} auch vorgebrachte Grund von der Adjektivbildung ist \gesperrt{ein} Grund dafür. Ich kann mich gegen Semantik nicht so voll wehren. Es ist halt etwas ,,akademisch; antik; lehrerhaft``. Na ja. Aber hemmungslos laufe ich gegen die ,,Philosophie`` an. Philosophie, das sind sinnleere Systeme mit kleinen Inseln zufällig sinnvoller Sätze, die aber nicht als ,,wissenschaftliche Philosophie`` vereinigt werden können. Daß man um der Pfaffen willen ,,wissenschaftliche Philosophie`` sagt, begreife ich, ,,wissenschaftliche Theologie`` usw., aber sonst gibts keinen Grund dafür. Im Gegenteil, wenn etwas ,,Philosophie`` ist, soll mans bemißtrauen! Hugh, ich habe gesprochen. Lebt wohl! Bald auf länger. Grüß mir Inen\IN{\ina}. Alles Gute Herzlichst} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828442}{RC 029-12-32}; Briefkopf: msl \original{Wien. XII. Arndtstraße 1. Stiege 17.} und \original{23.~Sept.}, hsl. ergänzt durch \original{32}.}