\brief{Rudolf Carnap an Bernhard Bavink, 18. September 1932}{September 1932} %Prag, den 18.Sept.1932. %Herrn Prof. B. \textit{Bavink}, %\uline{Bielefeld} \anrede{Sehr geehrter Herr Kollege!} \haupttext{Entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihnen immer noch nicht für die Neuauflage Ihres schönen großen Werkes\IW{\bavinkergebnisse} gedankt habe, die Sie mir vor zwei Jahren zugeschickt haben. Ich schob den Brief immer wieder hinaus, weil ich vorhatte, damit zugleich in die sachliche Diskussion einzugehen. Und wie es oft geht: wenn man sich zu viel vornimmt, wird gar nichts draus. Drum will ich jetzt mal schreiben, ohne die ganzen Probleme aufzurollen. Ich schätze Ihr Buch\IW{\bavinkergebnisse} außerordentlich, trotz des gegnerischen philos[ophischen] Standpunktes. Auch habe ich es immer den Studenten empfohlen, da es m.\,E. die beste Darstellung der verschiedenen naturwiss[enschaftlichen] Theorien gibt; Sie werden verstehen, daß ich dabei doch immer auch ein Warnungssignal vor Ihrer philos[ophischen] Stellungnahme gab; bei der letzten Aufl. noch mehr als früher, da ja jetzt Ihr Standp[unkt] mehr hervortritt. Auch Ihre Zeitschrift U[nsere] W[elt]\II{\unserewelt}, die ich seit dem vorigen Jahr beziehe, bewundere ich. Besonders Ihre Chronik, die nirgends ihresgleichen findet; ich wollte, wir hätten jemanden, der ebenso einen Überblick, von unsern Gesichtspunkten aus, regelmäßig geben könnte. Von den Aufsätzen haben mich bes. Ihre eigenen interessiert. Den Aufsatz\IW{} von Tollert\IN{} über Schlick\IN{\schlick} finde ich dagegen nicht bes. gut. Erstens ist vielleicht der Kern des Schlickschen\IN{\schlick} Buches\IW{} doch nicht ganz klar erfaßt; zweitens aber gibt das Buch Schlicks heutige Auffassung nicht mehr wieder. Im letzten Heft der Erk[enntnis]\II{\erkenntnis} (III/1) hat Schl[ick]\IN{\schlick} seine jetzige Auff[assung] über Realismus und Positivismus\IW{\schlickpositivismus} dargestellt, die sicherlich Ihr Interesse finden wird. Ich glaube auch, daß dieser Aufsatz einige Mißverständnisse beseitigen wird, die, wie mir schien, auch bei Ihnen noch in bezug auf unsre Auffassung vorlagen: daß wir nämlich gewisse Sätze, wenn wir sie ablehnen, nicht negieren (d.\,h. das Gegenteil behaupten), sondern uns in diesen Punkten der Behauptung enthalten, weil wir glauben, daß eine Scheinfrage vorliegt. Daher trifft es z.\,B. nicht zu, daß unsre Auffassung konscientialistisch oder positivistisch (im alten Sinne) wäre. Hier sind übrigens Schl[ick]\IN{\schlick}, Feigl\IN{\feigl}, Frank\IN{\frankphilipp} und ich vollkommen einig. Schl[ick]\IN{\schlick} hat im Winter in Amerika Einstein\IN{\einstein} getroffen und ihm das MS dieses Aufsatzes zu lesen gegeben. E[instein] hat dann erklärt, daß er mit diesen Formulierungen vollständig einverstanden ist. Ich war sehr erfreut, in Ihren Berichten\IW{} über meine Aufsätze ,,Metaphysik``\IC{\ueberwindungdermetaphysik} und ,,Physikal[ische] Sprache``\IC{\physikalischesprache} eine so zutreffende und verständnisvolle Wiedergabe meiner Gedankengänge zu finden, wie man sie bei einem Gegner nur sehr selten findet. Sie werden mir diese Freude nachempfinden können, da Sie ja selbst oft genug sich mit Gegnern, zuweilen auch unsachlichen, herumschlagen müssen. Ich finde auch, daß Ihre Einwände gegen mich nicht nur trotz der Schärfe des Gegensatzes stets sachlich sind, \neueseite{} sondern auch (was nicht so selbstverständlich ist) den entscheidenden Punkt, auf den es bei der Differenz unsrer Auffassungen gerade ankommt, genau treffen. So machen Sie am Schluß Ihrer Besprechung\IW{} üb[er] Phys[ikalische] Sprache\IC{\physikalischesprache} den Einwand, wie ich denn meine eigenen Darlegungen in die allein für korrekt erklärte Sprache übersetzen wolle. (Ich habe den Text nicht hier, leider habe ich auf der Sommerreise das Heft verliehen oder verloren; könnte ich viell. dieses Aug.-Heft oder die betr. Seiten nochmal bekommen?) Ähnlich auch schon S.\,123. Dies ist tatsächlich ein kritischer Punkt, ich glaube sogar, in den bisherigen Darlegungen unsres Standpunktes der schwächste Punkt (einschl. der Darlegung von Wittgenstein\IN{\wittgenstein}; denn es ist sicherlich höchst unbefriedigend, daß er (S.\,188) die eigenen Sätze nachträglich als bloße Erläuterungen, die im Grunde unsinnig seien, hinstellen muß). Diese Schwierigkeit glaube ich aber jetzt überwunden zu haben. Durch meine Untersuchungen über Semantik\IC{\logischesyntax} (die ich zu ganz anderem Zweck und aus ganz anderen Gesichtspunkten angestellt habe) ist mir klar geworden, welches der logische Charakter der Sätze unsrer wiss[enschaftlichen] Philos[ophie] ist: es sind semantische Sätze. Ich kann das hier nicht kurz erklären; einige Andeutungen gebe ich in einer Erwiderung\IC{\erwiderung} auf Zilsel\IN{\zilsel}, die in Heft III/2 erscheinen wird; die ausführliche Darstellung der Semantik will ich in einem Buch\IC{\logischesyntax} geben, das jetzt bald fertig sein wird. Falls Sie die Absicht haben, über meinen Psychol[ogie]-Aufsatz\IC{\psychologiesprache} (in III/2) zu berichten, möchte ich Sie bitten, die Bemerkungen, die ich im gleichen Heft zu Zilsel\IN{\zilsel} und zu Dun[c]ker\IN{\duncker} mache, zu beachten, da sie vielleicht verhelfen können, einige häufig anzutreffende Mißverständnisse über das, was die These des Physikalismus besagen will und was nicht, zu vermeiden. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß Ihnen die Spalten unsrer Zeitschrift\II{\erkenntnis} gern offenstehen, falls Sie auf Schlicks\IN{\schlick} Aufsatz\IW{} (oder auf die von mir) nicht nur in Ihrer ZS\II{\unserewelt}, sondern auch bei uns erwidern möchten. Wie Sie sehen werden, hat leider der als Gegner-Diskutant aufgeforderte K[arl] Dun[c]ker\IN{\duncker} meine Thesen nicht hinreichend deutlich verstehen können. Wahrsch[einlich] in III/3 od. 4 werden Ausführungen von Neurath\IN{\neurath} \IW{\neurathprotokoll} und von mir\IC{\protokollsaetze} über Protokollsätze erscheinen; hierdurch wird wohl auch unsre erk[enntnis]th[eoretische] Auffassung noch klarer ersichtlich werden. Mit ergebenstem Gruß} \grussformel{Ihr\\ \blockade{ksl.}} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/855458}{RC 028-04-05}; Briefkopf: msl. \original{Prag, den 18.\,Sept. 1932 \,/\, Herrn Prof. B. Bavink \,/\, Bielefeld}.}