\brief{Kurt Gödel an Rudolf Carnap, 11. September 1932}{September 1932} %Wien 11./IX. 1932. \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Besten Dank für Ihre Karte aus Burgstein. Ich war diesen Sommer nur für kurze Zeit fort (eine Woche am Semmering). Das M.S. ,,Semantik``\IC{\logischesyntax} habe ich Ende August an Behmann\IN{\behmann} geschickt. Leider bin ich nicht dazu gekommen, es bis in alle Details zu lesen u. muß mich daher in meinen Bemerkungen auf die Hauptpunkte beschränken. Zunächst glaube ich, daß die Df. von ,,analytisch`` für die erweiterte Sprache u. daher auch der W-Beweis fehlerhaft sind. Sie geben Regeln an, durch welche die Frage, ob eine Formel analytisch ist, zurückgeführt wird auf dieselbe Frage für andere Formeln. Dadurch würde ein Begriff ,,analyt[isch]`` nur dann definiert sein, wenn dieses Verfahren schließlich immer zu Formeln führen würde, von denen anderweitig feststeht, ob sie analyt[isch] sind (z.\,B. 0 = 0). Dies ist aber, wie mir scheint, \neueseite{} nicht immer der Fall. Denn nehmen wir z.\,B. die Formel $(F) F(0) \vee \overline{F(0)}$; um festzustellen, ob sie analyt[isch] ist, muß man dies für alle Formeln der Gestalt $P(0) \vee \overline{P(0)}$ tun. Zu diesem Zweck muß man jedes konstante Prädikat $P$ durch sein Definiens ersetzen; in diesem können aber wieder gebundene Prädik[at]-Variable vorkommen u.s.w., sodaß man auf einen regressus in inf[initum] kommt. Am deutlichsten wird dies dadurch, daß u.\,U. \uline{dieselbe} Formel immer wiederkehren kann. Setzt man z.\,B. in der Formel $(F) . F(0) \vee 0 = 0$ für $F$ das konst[ante] Präd[ikat] $(F) F (x)$ ein und bringt auf die Normalform, so erhält man wieder die ursprüngliche Formel. Dieser Fehler läßt sich m.\,E. nur dadurch vermeiden, daß man als Laufbereich der Funktionsvariablen nicht die Präd[ikate] einer bestimmten Sprache, sondern alle Mengen u. Relationen überhaupt ansieht.\fnC{Dies involviert nicht etwa einen platonistischen Standpunkt, denn ich behaupte nur, daß sich diese Df. für ,,analyt[isch]'' innerhalb einer bestimmten Sprache, in der man die Begriffe ,,Menge'' u. ,,Rel'' schon hat, durchführen läßt.} Ich werde auf Grund dieses Gedankens im II. Teil meiner Arbeit\IW{} eine Df. für ,,wahr`` geben u. bin der Meinung, daß sich \neueseite{} die Sache anders nicht machen läßt u. daß man den höheren Funktionenkalkül \uline{nicht} semantisch auffassen kann. D.\,h. man kann natürlich auf semantischer Basis einen höheren Funkt[ionen]-K[alkül] aufbauen, es sind dann aber gerade die Gesetze, welche man für die klass. Theorie der reellen Zahlen braucht, nicht erfüllt, weil man notwendig zur verzweigten Typentheorie (ohne Red. Ax. ) geführt wird. Einen Einwand habe ich auch gegen die deskriptive Nachbildung des Unentsch[eidbarkeits]-Beweises p.\,308ff. Die Zahl $e$ und die Formel $G\textsubscript{6}$ scheinen mir zirkelhaft definiert zu sein. Denn $e$ ist definiert als ,,\sout{Meng} Reihenzahl der Menge der Atomformeln, welche aussagen, daß an den Stellen $a$ bis $a + 16$ die Formel $G\textsubscript{6}$ steht.`` (p.\,309). In der Df. von $e$ kommt also $G\textsubscript{6}$ vor, während umgekehrt in der Df. von $G\textsubscript{6}$ $e$ vorkommt. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß eine Zahl $e$ und eine Formel $G\textsubscript{6}$ mit den durch die beiden Df. ausgesprochenen Eigenschaften nicht \sout{geben} existieren kann. Aber ihre Existenz müßte eigens bewiesen werden, wozu man wahrscheinlich wieder irgendeine Art von \neueseite{} Diagonalschluß brauchen wird. Nicht ganz klar war mir, wozu Sie 2 Arten von Funktionsvariablen $(a\textsuperscript{n}$ u. $p\textsuperscript{n}$) brauchen. Man muß doch wohl mit einer auskommen können. Ich möchte jetzt noch eine Frage anschließen. Ist Ihnen vielleicht bekannt, ob Frege\IN{\frege} außer dem Nachwort zu den ,,Grundgesetzen``\IW{} noch etwas über die Antinomien publiziert hat? Soviel ich weiß, hat er doch das Jahr 1903 ziemlich lange überlebt, u. es wäre doch merkwürdig, wenn er darauf nicht mehr zurückgekommen wäre. Sind Ihnen überhaupt Publikationen nach dem Erscheinen der Grundgesetze\IW{} bekannt? Haben Sie schon Zermelos\IN{\zermelo} unsinnige Kritik an meiner Arbeit\IW{} im letzten Bd. des Jahresberichtes\II{} 2.\,Abt. p.\,87 gelesen? Es hat mir sehr leid getan, daß Ihre Sommerreise Sie nicht über Wien geführt hat. Hoffentlich kommen Sie nächstens doch wieder einmal her. Mit den besten Grüßen} \grussformel{Ihr ergebener\\ Kurt Gödel} \ebericht{Brief, hsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828686}{RC 102-43-05b}; Briefkopf: hsl. \original{Wien 11./IX. 1932}.}