seit Dein letzter Brief kam, ist nun doch trotz allen guten Vorsätzen geraume Zeit verstrichen, und mein Dank kommt reichlich spät. Ich lebe ja hier in idyllischem Zustande, und die Außenwelt existiert nur, soferne sie sich selbst in Erinnerung bringt. Den Rat des Arztes, überhaupt keine Post nachschicken zu lassen, konnte ich natürlich nicht befolgen. Aber ich bin außerordentlich faul, und mit bestem Erfolge, denn mein Gesundheitszustand hat sich erstaunlich gehoben; allerdings war ich in Wien wirklich noch sehr elend. Jetzt kann ich schon wieder eine halbe Stunde ohne üble Folgen bergauf gehen und sogar im warmen See ein ganz klein wenig schwimmen. Meine allgemeine Faulheit schließt natürlich nicht aus, daß ich an meinen laufenden Sachen langsam weiterarbeite, und es geht einigermaßen. Das Briefeschreiben fällt mir schwer, wie gewöhnlich.
Aber heut muß ich Dir schreiben, denn Du wirst zu gleicher Zeit einen Doppelbrief von WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph erhalten, den er mir verschlossen sandte mit der Bitte, Deine Adresse auf dem Couvert zu ergänzen. Ich weiß ja aber genau, was darin steht, und es fällt mir schwer genug, die Rolle des Briefträgers zu spielen, 🕮 nachdem ich vorher es natürlich abgelehnt hatte, Dir Wittgensteins’sPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph Brief an mich zu schicken, den er Dir nun selber in Abschrift sendet. Du weißt, wie sehr ich Euch beide schätze und kannst Dir denken, welches Leiden mir die unglückselige Angelegenheit verursacht. Ich stehe in mehrfacher Hinsicht vor einem Rätsel. Welch ein Glück, daß Du so ein ruhiger und verständiger Mensch bist! Meine Weisheit in dieser Sache ist zu Ende.
Über die philosophischen Dinge (Protokollsätze) brieflich zu diskutieren, scheint auch mir zu umständlich, und nach Deinen letzten Bemerkungen bin ich überzeugt, daß wir uns leicht einigen werden. Wann sehen wir uns wieder? Von FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl erhielt ich eine Karte (mit einem schönen Bilde vomoder von? Burgstein, wo wir vor acht Jahren zusammen waren – weißt Du noch?) mit den besten Nachrichten über Euern Sommeraufenthalt, zugleich aber mit der Mitteilung, daß ein Besuch an diesem schönen See nicht mehr wahrscheinlich sei. Das ist sehr schade. Ich werde in den ersten Septembertagen mit FrauPSchlick, Blanche Guy, 1881–1964, geb. Hardy, verh. mit Moritz Schlick und TochterPSchlick, Barbara, 1914–1988, verh. van de Velde, Tochter von Moritz Schlick in die Dolomiten reisen; die beiden müssen dann Mitte des Monats wegen des Schulbeginns nach Wien zurück, während ich noch bis Mitte Oktober im Süden zu bleiben gedenke. Vor Wien und dem Wintersemester graut mir diesmal einigermaßen. 🕮 Meine Vorträge in LondonB finden vom 21. bis 25. November statt, und es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß ich entweder vorher oder nachher einige Tage in Paris zubringe, wo der Professor Louis RougierPRougier, Louis, 1889–1982, fr. Philosoph eine Société Henri PoincaréISociété Henri Poincaré gründen möchte. Er schrieb mir vor längerer Zeit aus Ägypten, daß er Dich auch aufsuchen wolle – ist ihm das gelungen? Bist Du noch in Burgstein oder seid Ihr inzwischen weitergewandert? Falls FeiglsPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria FeiglPKasper, Maria, 1904–1989, auch Kasperle, heiratete 1931 Herbert Feigl noch bei Dir sind, wenn Du diese Zeilen erhältst, so grüße sie bitte recht herzlich. Vielleicht finde ich im nächsten Semester einmal eine Gelegenheit, nach Prag zu kommen; ich möchte die Stadt sehr gern kennenlernen.
Lebe recht wohl! Ich wünsche Dir einen genußreichen Verlauf des letzten Teils der Ferien. Grüße Frl. StoegerPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap und sei selbst vielmals gegrüßt von