\brief{Ludwig Wittgenstein an Rudolf Carnap, 20. August 1932}{August 1932} %\uline{Abschrift} %\uline{Wittgenstein an Carnap} %Hochreit, Post Hohenberg, N.Oe. %20.August 1932. \anrede{Sehr geehrter Herr Professor!} \haupttext{Ich schreibe den folgenden langen Brief an Sie nur mit dem größten Widerwillen. Aber ich muß eine Angelegenheit, die zwischen uns schwebt bereinigen, auch auf die Gefahr hin, als Krakeeler zu erscheinen. Und ich kann mich nur in der Form einer Darstellung des ganzen Herganges der Sache erklären. Ich erhielt im April (oder anfangs Mai) Ihren Aufsatz über den ,,Physikalismus``\IC{}. Beim Durchblättern der Schrift fielen mir mehrere Stellen ins Auge, die mir durch ihren Inhalt, wie auch durch gewiße Worte und Redewendungen offenbar dem Gedankenmaterial entnommen zu sein schienen, welches ich, teils in der ,,Abhandlung``\IW{\tractatus} veröffentlicht, teils im Laufe der letzten drei bis vier Jahre durch mündliche Mitteilung an Schlick\IN{\schlick} und Waismann\IN{\waismann} diesen beiden Herren und dadurch Anderen zur Verfügung gestellt habe. Genaueres Durchlesen bestätigte diesen Eindruck und zeigte, daß mein Name an keiner Stelle Ihrer Schrift\IC{} erwähnt war. Dies war umso auffallender, als Sie anderseits mit geflissentlicher Gewissenhaftigkeit an mehreren Stellen auf Ihre eigenen und auf Herrn Neuraths\IN{\neurath} Schriften hinweisen, sodaß der Leser durch die Unterlassung der Nennung Ihrer Hauptquelle irregeführt werden muß. Es schien mir klar, daß hier die bewußte Absicht vorlag, mich nicht zu nennen; und die Provenienz der Gedanken zu verhüllen. -- Ich schrieb damals einen Brief an Prof. Schlick\IN{\schlick}, in welchem ich meiner Entrüstung über Ihr Vorgehen Ausdruck gab. Ich schrieb unter anderem, ich hätte mich durch die mündliche Veröffentlichung meiner Ergebnisse, ohne eine Sicherung durch Teilpublikationen in Zeitschriften etc., in die seltsame Lage gebracht, als Plagiator oder doch Kompilator fremder Gedanken zu erscheinen, wenn ich einmal mit der angesammelten Arbeit der letzten vier Jahre an die Öffentlichkeit treten würde. (Denn ich muß gestehen, daß mir Ihre Publikation damals diesen Schrecken einjagte.) Dieser Gedanke und andere beunruhigten mich; z.\,B. daß ich einerseits die Sache nicht ,,einstecken``, anderseits noch weniger in ein akademisches Prioritätsgezänk eintreten wollte. Dazu aber kam mein Widerwille gegen die billige Ausschrotung von Ergebnissen, gegen den selbstzufriedenen und pedantischen Ton Ihrer letzten Schriften (über einen Gegenstand der mir nahegeht). Mein erster Gedanke war, Ihnen den Sonderabdruck mit einer Bemerkung zurückzuschicken, aber beim Lesen hatte ich mir Verschiedenes darin angezeichnet und so behielt ich das Heft. Schlick\IN{\schlick} antwortete auf meinen Brief, auch er mißbillige Ihr Verhalten, sei aber der Überzeugung, daß Sie reinen Herzens handelten. -- Es vergingen dann ein bis zwei Monate und meine Gefühle änderten sich. Ich sagte mir: Was habe ich mit Professor Carnap\IN{\carnap} oder einem akademischen Zirkel zu tun, oder damit, welche Meinung man in diesen Kreisen von meiner Publikation haben wird. Sie muß mir gänzlich gleichgültig sein; und es bleibt nur noch, daß ich Prof. Carnap\IN{\carnap} meine Ansicht über sein Vorgehen wissen lassen soll. -- Im Juli nun kam ich nach Wien und besprach die Angelegenheit mit Schlick\IN{\schlick} und Waismann\IN{\waismann}, aber auch mit einer anderen mir befreundeten Person. Diese nun, nachdem ich die mir widerliche Geschichte geschildert hatte, fragte mich: ,,Was wirst Du tun?{}`` -- Ich: ,,Ich werde C[arnap]\IN{\carnap} das nächste Separatum mit einer entsprechenden Bemerkung zurückschicken.`` -- Mein Freund: ,,Ist das aber nicht ungerecht? Es ist ja möglich, daß C[arnap]\IN{\carnap} wirklich im guten Glauben handelt und Dich nur aus Versehen nicht genannt hat. Mach es doch so: Prof. Schlick\IN{\schlick} ist Carnaps\IN{\carnap} Freund und auch der Deinige; da nun Schlick\IN{\schlick} einerseits C[arnap]'s\IN{\carnap} Vorgehen mißbilligt, anderseits aber C[arnap]\IN{\carnap} für guten Glaubens hält, so soll er C[arnap]\IN{\carnap} auf sein Versehen aufmerksam machen. Aus C[arnap]'s\IN{\carnap} Antwort wird es sich dann ergeben, \neueseite{} ob die Sache einen Dolus hatte oder nicht``. -- Dieser Vorschlag schien mir gerecht und anständig und ich teilte ihn Schlick\IN{\schlick} mit, und Schlick\IN{\schlick} schrieb Ihnen darauf den Brief, dessen Inhalt ich kenne. -- Einige Zeit darauf schickte er mir auch Ihre Antwort, die er selbst für zufriedenstellend zu halten schien, die mich aber ganz anders berührte. Damals nun setzte ich einen Brief an Sie auf, den ich aber wieder verwarf, und stattdessen schrieb ich einen Brief an Schlick\IN{\schlick} und bat ihn mein Schreiben an Sie weiterzugeben. Ich schließe dieses mein Schreiben bei und es wird Ihnen meinen Standpunkt deutlich machen. Schlick\IN{\schlick} schrieb mir sofort nach Empfang dieses Briefes und ersuchte mich in seiner freundlichen und wohlwollenden Weise, nicht darauf zu bestehen, daß mein Brief an Sie weiterbefördert werde. Dies bewog mich nun Ihnen den gegenwärtigen Brief zu schreiben und alles mir Wesentliche darin auseinanderzusetzen, um die Sache, so weit sie mich betrifft, ins Reine zu bringen. -- Und nun noch einmal, was zwar schon klar in dem beiliegenden Brief an Schlick\IN{\schlick} gesagt ist: Mein Zweck ist es nicht, die Nennung meines Namens in Ihren Schriften zu erreichen; denn hätte ich das gewünscht, so hätte ich Ihnen meine Ansicht nicht so unumwunden mitgeteilt; ja ich hoffe, daß ich bald auch nicht mehr in der -- wenn auch lockeren -- Beziehung zum akademischen Leben stehen werde, wie zur Zeit. Aber ich empfände es als Unrecht, Sie über meine Ansicht in der Sache nicht völlig zu unterrichten.} \grussformel{Hochachtungsvoll\\ Ludwig Wittgenstein} \ebericht{Abschrift, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808328}{RC 102-78-03 (Abschrift RC 102-78-09)}; Briefkopf: msl. \original{Abschrift \,/\, Wittgenstein an Carnap \,/\, Hochreit, Post Hohenberg, N.Oe. \,/\, 20.\,August 1932}.}