\brief[Neurath an Carnap, Wien, 27.~Juli 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 27. Juli 1932}{Juli 1932} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Da ich sehr um Kollektivarbeit bemüht bin, habe ich nichts dagegen, auch \gesperrt{ohne Einsicht meinerseits} Artikel abzuändern, bis sie Dir verständlich vorkommen. Aber ich möchte dazu doch etwas bemerken. Als Deine neuerliche Mitteilung kam, Du\fnA{\original{die}} könntest kaum bei einem Satz sagen, ob Du ihm zustimmtest, alles sei Dir so schwer verständlich usw., da habe ich nochmals den ganzen Aufsatz\IW{\neurathprotokoll} umgearbeitet und die Umarbeitung Feigl\IN{\feigl} und Neider\IN{\neider} vorgelegt. Sie erklärten neuerlich, daß sie das alles ausreichend verständlich, vielleicht ablehnbar, aber in sich konsequent fänden. Das hatten sie aber schon bei der vorherigen Fassung gefunden. Daher bemühte ich mich herauszukriegen, was wohl Dir so unverständlich vorkommt. Meine Meinung ist, daß zwischen unseren Grund\-ein\-stellungen eine \gesperrt{tiefgehende Differenz} besteht, die nur dadurch wenig zu bemerken ist, weil im Bereich der wissenschaftlichen Präzisierung wir wachsende Gebiete der Gemeinschaft erzeugen. Aber bei Dir, so scheint mir wenigstens, bleibt immer ein deutlicher Rest intensiver idealistischer Grundhaltung bestehen, der Dir gar nicht zum Bewußtsein kommt. Vielleicht treten bei Dir auch Hemmungen auf, weil Dir gewisse Thesen, die Du halten willst, selbst nicht gar so sicher vorkommen. Es ist doch für mich jetzt auffallend, daß \gesperrt{drei} Leute unserer Gruppe sich mit meinen Ausführungen ohne Schwierigkeiten auseinandersetzen können. Feigl\IN{\feigl}, Neider\IN{\neider} und der neue Zuwachs Hollitscher\IN{\hollitscherwalter}, für den Du nur als mythische Figur existierst, obgleich er bei Waismann\IN{\waismann}, \neueseite{}\zzz Schlick\IN{\schlick} ständig mitarbeitet. Nachdenklich blieb ich zurück. Und setzte mich hin und habe trotz Zeitmangel die ganze Sache nochmals völlig anders hingesetzt. Vielleicht Dir verständlicher, weil die Unterschiede mehr betonend, wovor ich offenbar bis vor kurzem mehr zurückscheute. Dein Brief hat mich eigentlich gezwungen, mir ganz klar zu machen, wo die Differenzen ernster Art stecken dürften. Denn ich kann nicht annehmen, daß Du aus Dir selbst heraus so schulmeisterlich mir schreiben würdest, was ich bei aller Liebenswürdigkeit, die Dein Brief atmet, nicht weiter ,,übel nehme``. Auch nimmt es mich wunder, daß Du ein Maß von Pedanterie gegen mich anwendest, das ich in Deiner eigenen Arbeit vermisse. Wo erklärst Du z.\,B. das offenbar sehr wichtige Wort ,,Bewährung``??? Du sprichst ruhig von ,,Vorstellungsgehalt``, beginnst gleich am Anfang damit, daß die Wissenschaft auf Grund von Erfahrung aufgestellt wird, während von Protokollsätzen als Kontrollsätzen sofort die Rede sein müßte. Usw. Es ist\fnA{\original{sind}} eine ganze Reihe von entscheidenden Stellen, wo besser die formale Redeweise angewendet würde. Aber das sind ja alles weniger wichtige Dinge. Wenn Du nur an mich appellieren würdest im Interesse besonderer Klarheit, die wir gemeinsam steigern müssen, wärs was anderes. Aber man hat so das Empfinden, daß Du, unklar in viel Wesentlicherem, mir Unklarheiten viel unwesentlicherer Art vorhältst. Und was das ,,Verstehen`` anlangt. Wenn es wahr ist, daß Du Wittgenstein\IN{\wittgenstein} verstehen konntest, dann frage ich mich wirklich, welche eigenartige Grundstruktur Dich hindert, mich zu verstehen. Ich war erschüttert, als ich die Angelsätze des Tractatus\IW{\tractatus} noch mal durchflog. \neueseite{}\zzz Ich kann mir das nur so erklären, daß Du die Gesamttendenz meines Bemühens irgendwie eigentlich nicht magst, selbst dann nicht, wenn Du vielleicht zustimmen mußt, weil Du schließlich saubere Sätze nicht bekämpfen kannst. Ich bin ja sehr gespannt auf Deine Antwort auf meinen Artikel\IW{\neurathprotokoll}. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Du ihn weiter an einzelnen Stellen präzisierst. Aber ich würde vorschlagen, daß Ihr Euch auf ein Minimum beschränkt. Ich möchte schließlich in meiner Sprache sprechen, denn auch in meinen Unklarheiten dürfte irgendwie ein Teil meiner Klarheit stecken, und vor allem meiner Konsequenz. Ich habe bemerkt, daß verbale Änderungen \gesperrt{manchmal} zwar präzisierend wirkten, aber die Stoßrichtung etwas verschoben haben. Das sind Feinheiten, die wir jetzt nicht diskutieren wollen. Daß ich stilistisch meine Sachen zu wenig feile, das kann ich nicht leugnen. Ich bedauere es sehr. Aber die Zeit ist knapp, und ich möchte doch einige wesentliche Dinge sagen. Daß unsere Gesellschaftsordnung mir keine Zeit zur Arbeit gibt, ist mit ein Teil ihres Wesens. Würde ein Mäzen unserem Mundaneum\II{\mundaneum},\fnEE{1931 wurde sowohl das \textit{Mundaneum Wien} gegründet (mit selbem Sitz wie das \textit{Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum}) als auch das \textit{Mundaneum Institute The Hague}.} das jetzt auch unter dem Titel ,,Kulturgeographie`` philosophische Theorien rubriziert und einheitswissenschaftlich\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{das soll heißen ,,E``}}.} arbeitet -- sogar hiefür \gesperrt{Arbeitsstipendien} auszahlt!\fnE{Vgl. unten, Brief Nr. \refcn{1932-11-03-Neurath-an-Carnap}.} --, z.\,B. 20.000 S stiften, würde ich sofort einige Monate ernstester einheitswissenschaftlicher\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{siehe oben}}.} Arbeit widmen. An Feigl\IN{\feigl} schicke ich den Durchschlag. Ob Frank\IN{\frankphilipp} ihn noch lesen muß? Ich überlasse das Dir, ein drittes Exemplar ist bei mir. Wichtiger wäre, wenn Eure Korrekturvorschläge bis 5.~August, spätestens 10.~August (vielleicht fahre ich später als 5.~August) in meinem Besitz wären. \neueseite Über den Berliner Kreis\II{\gesellschaft} wollen wir mal mündlich sprechen. Während Du ihn nicht sehr schlimm findest, stöhnt Dubislav\IN{\dubislav} in meiner Richtung. Schade, daß Du mit solcher Vorliebe die Semantik\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{soll heißen: das Wort ,,Semantik``}}.} verwendest und die liebe logische Syntax beiseite läßt. Ich bin fabelhaft gespannt. Ich hoffe, daß das üble Wort\labelcn{boesephilosophie} ,,Philosophie``\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{im Buch ,,Semantik``}}.} nicht mehr darin vorkommt. Daß Schlick\IN{\schlick} sich beklagte, Wittgenstein\IN{\wittgenstein} hätte zitiert werden sollen statt meiner, so muß ich sagen, daß er wahrscheinlich sich nicht über das Maß von Metaphysik \textkritik{}\fnA{\original{nicht}}\zzz im reinen ist, das, wie es scheint, selbst im erneuerten Wittgenstein\IN{\wittgenstein} steckt. Ich bin gespannt auf das Buch\IW{\waismannbuch} von Waismann\IN{\waismann}. Wie mir Hollitscher\IN{\hollitscherwalter} berichtet, scheint sich Waismann\IN{\waismann} mit Wittgenstein\IN{\wittgenstein} mehr meinem Standpunkt zu nähern, was aber durch doppelt intensive Ablehnung meines Standpunktes wett gemacht wird. Na, wir werden sehn. Mir wäre lieb, wenn Du als Zentrum allmählig mehr dem linken Flügel Dich zuneigend die ,,Protokollsätze ohne Bewährung``, die ,,intersubjektive`` neben der ,,monologisierenden`` Sprache aufgäbest usw. und den Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} mit denen repräsentiertest, die nichts mit der Wittgensteinschen\IN{\wittgenstein} Metaphysik zu tun haben, unter voller Anerkennung unseres mystizistischen Hegels\IN{\hegel}, dem wir ins Materialistische entflohen sind. Also schickt mir rasch die Korrekturvorschläge. Mit Motivenbericht. Grüß mir den wackeren Hempel\IN{\hempel}, Ina\IN{\ina}, die dahinschwebende. Freut Euch der Sonne! Grüßt Maria\IN{\kasper}\fnE{Gemeint ist Maria Feigl, geborene Kasper.} und Feigl\IN{\feigl}! Von uns allen! Alles Liebe} \grussformel{Dein\\Nth} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/807878}{RC 029-12-38 (Dsl. ON 219)}; Briefkopf: msl. \original{Wien. XII. Bezirk. Arndtstraße 1. Stiege 17} und \original{27.~Juli}.}