Neurath an Carnap, Wien, 27. Juli 1932 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 27. Juli 1932 Juli 1932

Lieber Carnap!

Da ich sehr um Kollektivarbeit bemüht bin, habe ich nichts dagegen, auch ohne Einsicht meinerseits Artikel abzuändern, bis sie Dir verständlich vorkommen. Aber ich möchte dazu doch etwas bemerken.

Als Deine neuerliche Mitteilung kam, Duadie könntest kaum bei einem Satz sagen, ob Du ihm zustimmtest, alles sei Dir so schwer verständlich usw., da habe ich nochmals den ganzen AufsatzBNeurath, Otto!1932@„Protokollsätze“, Erkenntnis 3, 1932/33, 204-214 umgearbeitet und die Umarbeitung FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl und NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger vorgelegt. Sie erklärten neuerlich, daß sie das alles ausreichend verständlich, vielleicht ablehnbar, aber in sich konsequent fänden. Das hatten sie aber schon bei der vorherigen Fassung gefunden. Daher bemühte ich mich herauszukriegen, was wohl Dir so unverständlich vorkommt. Meine Meinung ist, daß zwischen unseren Grund­ein­stellungen eine tiefgehende Differenz besteht, die nur dadurch wenig zu bemerken ist, weil im Bereich der wissenschaftlichen Präzisierung wir wachsende Gebiete der Gemeinschaft erzeugen. Aber bei Dir, so scheint mir wenigstens, bleibt immer ein deutlicher Rest intensiver idealistischer Grundhaltung bestehen, der Dir gar nicht zum Bewußtsein kommt.

Vielleicht treten bei Dir auch Hemmungen auf, weil Dir gewisse Thesen, die Du halten willst, selbst nicht gar so sicher vorkommen. Es ist doch für mich jetzt auffallend, daß drei Leute unserer Gruppe sich mit meinen Ausführungen ohne Schwierigkeiten auseinandersetzen können. FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl, NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger und der neue Zuwachs HollitscherPHollitscher, Walter, 1911–1986, öst.-dt. Philosoph, für den Du nur als mythische Figur existierst, obgleich er bei WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, 🕮{}SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick ständig mitarbeitet.

Nachdenklich blieb ich zurück. Und setzte mich hin und habe trotz Zeitmangel die ganze Sache nochmals völlig anders hingesetzt. Vielleicht Dir verständlicher, weil die Unterschiede mehr betonend, wovor ich offenbar bis vor kurzem mehr zurückscheute. Dein Brief hat mich eigentlich gezwungen, mir ganz klar zu machen, wo die Differenzen ernster Art stecken dürften.

Denn ich kann nicht annehmen, daß Du aus Dir selbst heraus so schulmeisterlich mir schreiben würdest, was ich bei aller Liebenswürdigkeit, die Dein Brief atmet, nicht weiter „übel nehme“. Auch nimmt es mich wunder, daß Du ein Maß von Pedanterie gegen mich anwendest, das ich in Deiner eigenen Arbeit vermisse. Wo erklärst Du z. B. das offenbar sehr wichtige Wort „Bewährung“??? Du sprichst ruhig von „Vorstellungsgehalt“, beginnst gleich am Anfang damit, daß die Wissenschaft auf Grund von Erfahrung aufgestellt wird, während von Protokollsätzen als Kontrollsätzen sofort die Rede sein müßte. Usw. Es istbsind eine ganze Reihe von entscheidenden Stellen, wo besser die formale Redeweise angewendet würde. Aber das sind ja alles weniger wichtige Dinge.

Wenn Du nur an mich appellieren würdest im Interesse besonderer Klarheit, die wir gemeinsam steigern müssen, wärs was anderes. Aber man hat so das Empfinden, daß Du, unklar in viel Wesentlicherem, mir Unklarheiten viel unwesentlicherer Art vorhältst.

Und was das „Verstehen“ anlangt. Wenn es wahr ist, daß Du WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph verstehen konntest, dann frage ich mich wirklich, welche eigenartige Grundstruktur Dich hindert, mich zu verstehen. Ich war erschüttert, als ich die Angelsätze des TractatusBWittgenstein, Ludwig!1921@Logisch-philosophische Abhandlung, Leipzig, 1921 noch mal durchflog. 🕮{}

Ich kann mir das nur so erklären, daß Du die Gesamttendenz meines Bemühens irgendwie eigentlich nicht magst, selbst dann nicht, wenn Du vielleicht zustimmen mußt, weil Du schließlich saubere Sätze nicht bekämpfen kannst. Ich bin ja sehr gespannt auf Deine Antwort auf meinen ArtikelBNeurath, Otto!1932@„Protokollsätze“, Erkenntnis 3, 1932/33, 204-214.

Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Du ihn weiter an einzelnen Stellen präzisierst. Aber ich würde vorschlagen, daß Ihr Euch auf ein Minimum beschränkt. Ich möchte schließlich in meiner Sprache sprechen, denn auch in meinen Unklarheiten dürfte irgendwie ein Teil meiner Klarheit stecken, und vor allem meiner Konsequenz. Ich habe bemerkt, daß verbale Änderungen manchmal zwar präzisierend wirkten, aber die Stoßrichtung etwas verschoben haben. Das sind Feinheiten, die wir jetzt nicht diskutieren wollen.

Daß ich stilistisch meine Sachen zu wenig feile, das kann ich nicht leugnen. Ich bedauere es sehr. Aber die Zeit ist knapp, und ich möchte doch einige wesentliche Dinge sagen. Daß unsere Gesellschaftsordnung mir keine Zeit zur Arbeit gibt, ist mit ein Teil ihres Wesens.

Würde ein Mäzen unserem MundaneumIMundaneum Institut Den Haag‚ das jetzt auch unter dem Titel „Kulturgeographie“ philosophische Theorien rubriziert und einheitswissenschaftlichaKsl. das soll heißen „E“. arbeitet – sogar hiefür Arbeitsstipendien auszahlt!1Vgl. unten, Brief Nr. .–, z. B. 20.000 S stiften, würde ich sofort einige Monate ernstester einheitswissenschaftlicherbKsl. siehe oben. Arbeit widmen.

An FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl schicke ich den Durchschlag. Ob FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank ihn noch lesen muß? Ich überlasse das Dir, ein drittes Exemplar ist bei mir. Wichtiger wäre, wenn Eure Korrekturvorschläge bis 5. August, spätestens 10. August (vielleicht fahre ich später als 5. August) in meinem Besitz wären. 🕮

Über den Berliner KreisIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin wollen wir mal mündlich sprechen. Während Du ihn nicht sehr schlimm findest, stöhnt DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph in meiner Richtung. Schade, daß Du mit solcher Vorliebe die SemantikcKsl. soll heißen: das Wort „Semantik“. verwendest und die liebe logische Syntax beiseite läßt.

Ich bin fabelhaft gespannt. Ich hoffe, daß das üble Wort „Philosophie“dKsl. im Buch „Semantik“. nicht mehr darin vorkommt.

Daß SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sich beklagte, WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph hätte zitiert werden sollen statt meiner, so muß ich sagen, daß er wahrscheinlich sich nicht über das Maß von Metaphysik cnichtim reinen ist, das, wie es scheint, selbst im erneuerten WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph steckt. Ich bin gespannt auf das BuchBWaismann, Friedrich!1976@Logik, Sprache, Philosophie, Stuttgart, 1976 von WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann. Wie mir HollitscherPHollitscher, Walter, 1911–1986, öst.-dt. Philosoph berichtet, scheint sich WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann mit WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph mehr meinem Standpunkt zu nähern, was aber durch doppelt intensive Ablehnung meines Standpunktes wett gemacht wird. Na, wir werden sehn. Mir wäre lieb, wenn Du als Zentrum allmählig mehr dem linken Flügel Dich zuneigend die „Protokollsätze ohne Bewährung“, die „intersubjektive“ neben der „monologisierenden“ Sprache aufgäbest usw. und den Wiener KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis mit denen repräsentiertest, die nichts mit der WittgensteinschenPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph Metaphysik zu tun haben, unter voller Anerkennung unseres mystizistischen HegelsPHegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1770–1831, dt. Philosoph, dem wir ins Materialistische entflohen sind.

Also schickt mir rasch die Korrekturvorschläge. Mit Motivenbericht. Grüß mir den wackeren HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap, die dahinschwebende. Freut Euch der Sonne! Grüßt MariaPFeigl, Maria, 1904–1989, geb. Kasper, auch Kasperle, verh. mit Herbert Feigl2Gemeint ist Maria Feigl, geborene Kasper. und FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl! Von uns allen! Alles Liebe

Dein
Nth

Brief, msl., 4 Seiten, RC 029-12-38 (Dsl. ON 219); Briefkopf: msl. Wien. XII. Bezirk. Arndtstraße 1. Stiege 17 und 27. Juli.


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