\brief[Carnap an Neurath, Prag, 18.~Juli 1932]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 18. Juli 1932}{Juli 1932}\labelcn{1932-07-18-Carnap-an-Neurath} \anrede{Lieber Neurath,} \haupttext{nun komm ich doch nicht mehr nach Wien. Am 21. werden wir abreisen. Adresse steht noch nicht fest. Ich werde mit Ina\IN{\ina} und Hempel\IN{\hempel} einen Ort suchen. Feigls\IN{\feigl}\IN{\kasper} kommen dann am 1.~Aug. nach. Von Feigl kannst Du in einigen Tagen unsre Adresse erfahren; Briefe erreichen mich aber auch immer über Prag. Berlin war erfreulich.\fnEE{Am 4. und 6. Juli 1932 sprach Carnap in Reichenbachs Kolloquium über ,,Die Semantik als Grundlage der wissenschaftlichen Philosophie`` und ,,Formale Fragen der Semantik``, am 5.~Juli in der \textit{Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie} über ,,Die Überwindung der Metaphysik`` sowie via Rundfunk über ,,Alte und moderne Trugschlüsse``; vgl. TB 4.\,--\,6.\,7.\,1932.} Der öffentl\ekl{iche} Vortrag\IC{\ueberwindungdermetaphysik} gut besucht; die Berliner Ge"-s\ekl{ellschaft}\II{\gesellschaft} ist nicht so schlimm, wie Ihr sie immer macht; sie veranstalten ganz gute Vorträge und kommen an einen weiteren Kreis heran. Die Besprechungen über Semantik\IC{\semantikvortraege} in Reichenb\ekl{ach}s\IN{\reichenbach} Kolloquium\II{\reichenbachskolloquium} waren auch erfreulich, da ich lebhaftes Interesse und gutes Verständnis fand. Hempel\IN{\hempel} hatte schon durch 3 Referate\IW{} vorbereitet (ich hatte ihm Teile des MS\IC{} geschickt). Jetzt ist fast das ganze MS\IC{} fertig; Ina\IN{\ina} hats inzwischen hier getippt. Es fehlt nur noch das letzte Kapitel über Semantik und Philosophie (sit venia verbo!\fnE{Sinngemäß für: ,,Man verzeihe dieses Wort``.}) Im Sommer werdens Behmann\IN{\behmann}, Hempel\IN{\hempel} und Gödel\IN{\goedel} lesen. Später werde ich es dann nochmal durcharbeiten, unter Verwertung der krit\ekl{ischen} Bemerkung der Freunde. Der Ehrgeiz, daß einem kein andrer dreinreden dürfe, wird ja hoffentlich immer mehr verschwinden. Zu Deinem MS\IW{\neurathprotokoll} möchte ich auch gern Verschiedenes bemerken und noch mehr Fragen stellen, wie dies und jenes gemeint ist. Da wir uns zunächst nicht sehen, so hoffe ich, von Feigl\IN{\feigl}, mit dem Du ja alles durchgesprochen hast, die nötigen Erläuterungen zu bekommen. Bei der ,,Unverständlichkeit`` denke ich in erster Linie an mich, in zweiter an die andern Leser. Viele Deiner typischen Ausdrücke verstehe ich nicht (z.\,B.: ,,\ldots\ kann an Stelle von \ldots\ gesetzt werden``, ,,ersetzen``, ,,variieren``, ,,nicht umformbar``, ,,kann übertragen werden``, u. dergl\ekl{eichen}). In vielen Fällen liegt die Unklarheit an der Verwendung der inhaltlichen Redeweise (z.\,B. ,,Sätze über Erlebnisse sind sinnleer``, ,,Worte, in denen von einem lebenden Organismus die Rede ist``, ,,es kommt noch das Sprechdenken \ldots\ hinzu, das als \ldots\ Vorgang \ldots\ formuliert werden mag``; u. dergl\ekl{eichen}). Die inhaltliche Redeweise ist natürlich häufig bequem und zweckmäßig; aber an kritischen Stellen, wo es gerade darauf ankommt, daß man richtig verstanden wird, sollte man vorsichtigerweise die Übersetzung in die formale Redeweise nicht dem armen Leser überlassen, der dabei leicht danebengreifen wird, sondern selbst geben, und die inhaltl\ekl{iche} Redeweise an diesen Stellen vermeiden. (In den ersten beiden der genannten Beispiele weiß ich nicht, wie ich übersetzen soll!). Ich habe außer der Entgegnung von Duncker\IW{\dunckerentgegnung}\IN{\duncker} noch ein MS von Zilsel\IN{\zilsel} zum Physikalismus\IW{\zilselbemerkungen} bekommen.\fnEE{Duncker, ,,Behaviorismus und Gestaltpsychologie``; Zilsel, ,,Bemerkungen zur Wissenschaftslogik``.} Das erstere enthält hauptsächlich Mißverständnisse, sogar inbezug auf die Hauptthese des Physikalismus, und meist unklare Darlegungen, hauptsächlich infolge Verwendung der inhaltl\ekl{ichen} Redeweise. Zilsel\IN{\zilsel}\IW{\zilselbemerkungen} ist im ganzen verständlich, bringt nur am Schluß eine arge Scheinthese, die meiner Meinung nach dadurch nicht besser wird, daß er selbst sagt, diese seine These sei natürlich eigentlich unsagbar, aber trotzdem für die Wiss\ekl{enschaft} unentbehrlich. Immerhin \neueseite{}\zzz sind seine Darlegungen, im Unterschied zu denen von Duncker\IN{\duncker}\IW{\dunckerentgegnung}, so, daß man zu ihnen deutlich Stellung nehmen kann.%\fnE{Vgl. Carnap, ,,Erwiderung auf die vorstehenden Aufsätze von E. Zilsel und K. Duncker``.} Es ist doch nun im Interesse der Sache sicherlich dringend zu wünschen, daß Deine Darlegungen, als eines Mitglieds unseres Kreises\II{\schlickzirkel}, in solcher Form veröffentlicht werden, daß sie mindestens auf gleicher Linie mit Zilsel\IN{\zilsel} stehen (ich meine hier nicht inbezug auf Richtigkeit der Thesen, sondern inbezug auf den Grad der Klarheit und damit die Diskutabilität). Augenblicklich bin ich bei den meisten Deiner Sätze nicht imstande, anzugeben, ob ich ihnen zustimme oder nicht. Durch Feigls\IN{\feigl} Erläuterungen werde ich alles ja wohl besser verstehen. Aber die andern Leser haben diese Erläuterungen nicht. Ich glaube aber, abgesehen von den Einzelheiten, doch die Hauptgedanken ungefähr richtig verstanden zu haben. Stimmt es, daß folgendes die beiden Hauptthesen sind?: 1) Wir wollen nicht 2 Sprachformen (Prot\ekl{okoll}spr\ekl{ache} und Systemspr\ekl{ache}) machen, sondern nur eine; die Prot\ekl{okoll}sätze sind zwar von den andern Sätzen verschieden (?), gehören aber doch derselben Sprachform an wie die übrigen. 2) Ein Prot\ekl{okoll}satz kann ebenso durch andere Prot\ekl{okoll}sätze bestätigt oder widerlegt werden, wie irgend ein andrer Satz; d.\,h. wir können, von einer bestimmten Menge von Prot\ekl{okoll}sätzen ausgehend, unter Umständen schließlich zu einem Satz gelangen, der die Negation eines der Ausgangssätze ist. Die Ausgangssätze brauchen nicht Prot\ekl{okoll}sätze nur eines Subjekts zu sein (?). (Die \glqq ?\grqq\ bedeuten nicht meinen Zweifel, sondern Unsicherheit, ob die Wiedergabe richtig ist). Stimmt dies? Sonst erläutere bitte brieflich (oder mündlich oder telephonisch an Feigl\IN{\feigl}, der es mir übermitteln wird). Also, ich werde nochmal mit Feigl\IN{\feigl} alles besprechen, vielleicht Dein MS\IW{\neurathprotokoll} auch noch an Frank\IN{\frankphilipp} schicken (hast Du noch ein Ex\ekl{emplar}, das Du ihm direkt schicken könntest?). Am liebsten wärs mir ja, wir sprächen dann nochmal mündlich darüber. Wann kommst Du von M\ekl{oskau} zurück? Ende Aug. werde ich vermutlich wieder hier sein und die weiteren Ferien hier bleiben (Tagung Wiesbaden ist aufgegeben; Reichenb\ekl{ach}\IN{\reichenbach} sagt, daß er keine geeigneten Biologen gefunden hat.)\fnE{Über diese wohl von Reichenbach geplante Tagung ist nichts Näheres bekannt.} Nimm bitte meine scharfe Kritik so freundschaftlich auf, wie sie gemeint ist. Wenn wir unter uns sprechen, ist ja Schärfe am besten, weil am deutlichsten. In einer öffentlichen Entgegnung auf Deine Darlegungen würde ich natürlich die Gemeinsamkeit unsrer Grundauffassungen hervorheben, was hier in der privaten Diskussion überflüssig ist. Schlick\IN{\schlick} hat mir geschrieben, da ich (in ,,Phys\ekl{ikalische} Sprache``\IC{\physikalischesprache}) auf Dich so nachdrücklich hingewiesen hätte, hätte ich es nicht unterlassen dürfen, noch mehr auf Wittgenstein\IN{\wittgenstein} hinzuweisen!\fnE{Schlick an Carnap, 10.\,Juli 1932, (RC 029-29-10).} Könntest Du vielleicht, da die Korrespondenz mit Dir jetzt zeitraubend sein wird, Feigl\IN{\feigl}\fnA{\original{Feigeln}} ermächtigen, in Verbindung mit mir Umformulierungen vorzunehmen? Die geänderte Fassung würde ich dann entweder später mit Dir durchsprechen oder, wenn das zu spät wird, Dir zur Durchsicht schicken. Schreib Deine Adresse! Wird Dir von Wien (Wohnung oder Museum\II{\museumneurath}?) nachgeschickt? Dir und Olga\IN{\neuratholga} herzliche Grüße, auch von Ina\IN{\ina},} \grussformel{Dein\\Carnap} \cutcnn{\briefanhang{\textkritikl Adresse: Innsbruck. Hauptpostlagernd.\textkritikr\fnAmark}\fnAtext{Hsl. Einschub.}} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828432}{ON 219 (Dsl. RC 029-12-39)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap~/ Prag XVII.\,/\,N. Motol, Pod Homolkou}, msl. \original{den 18.~Juli 1932}.}