\brief{Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 17. Juli 1932}{Juli 1932} %[Prag] , den 17. Juli 1932. \anrede{Lieber Schlick,} \haupttext{Besten Dank für Deinen Brief. Du bist also jetzt schon in den Bergen. Wir wollen am 21. abreisen. Nach Wien fahre ich jetzt nicht mehr. Wohin wir fahren, ist noch immer nicht fest beschlossen, da die Verhandlungen mit Feigls\IN{\feigl} \IN{\kasper} noch nicht zu einem festen Ergebnis geführt haben. Wir wollen uns dann selber umschauen. Feigls\IN{\feigl} \IN{\kasper} kommen am 1.\,August nach. Mit uns fährt Hempel\IN{\hempel}, aber nur bis zum 3.\,August. Ich hoffe immer noch, daß wir uns in den Ferien einmal sehen werden. Bleibst Du die ganze Zeit bis Oktober in Millstatt? Wir werden sicherlich weiter nördlich sein. Wir bleiben wahrscheinlich bis Ende August. Kommst Du nicht doch mal nach Tirol oder treffen wir uns vielleicht mal auf einem zwischengelegenen Punkt? Auf einige Punkte, von denen Du schreibst, möchte ich noch eingehn; aber nur ganz kurz, wie es meiner notorischen Schreibfaulheit entspricht. Meine Ansicht ist (im Unterschied zu Neurath\IN{\neurath}), daß die Protokollsätze aus den übrigen Sätzen herauszuheben sind. Was ich vom ,,gegenwärtigen Stand der Forschung`` sage, soll nur heißen: ich kann augenblicklich nicht genau sagen, welche Form die Protokollsätze haben; weitere Überlegungen werden das aber klären. Hiergegen hast Du doch wohl keine Bedenken? Was die Verweisung auf andere Autoren betrifft, so halte ich sie, ebenso wie Du und Wittgenstein\IN{\wittgenstein}, im Allgemeinen nicht für sehr wichtig. Auf Neurath\IN{\neurath} hatte ich im Manuskript\IC{} nur kurz hingewiesen. Die ausführliche Fußnote\fnE{Vgl R. Carnap: Über Protokollsätze. -- In: Erkenntnis, 3 (1932/33). -- S. 223.} habe ich in der Korrektur auf seine ausdrückliche Aufforderung eingefügt, da er um seine Prioritätsrechte fürchtete. Ich bin ganz Deiner Meinung, daß Wittgenstein\IN{\wittgenstein} in Deutschland viel zu wenig beachtet wird. Ich habe deshalb in Veröffentlichungen, Vorträgen und privaten Gesprächen immer wieder auf ihn hingewiesen. Im vorliegenden Aufsatz\IC{} aber, wo es sich ja um die Frage des Physikalismus handelt, scheint mir ein Hinweis auf Wittgenstein\IN{\wittgenstein} weniger erforderlich, da er sich ja mit der Frage des Physikalismus nicht befaßt hat, während Neuraths\IN{\neurath} Arbeiten\IW{} gerade diese Frage betreffen. Die allgemeine philosophische Grundlage, auf der auch die vorliegenden Überlegungen beruhen, geht natürlich in vielen Punkten auf Wittgenstein\IN{\wittgenstein} zurück; aber das ist ja in den früheren Aufsätzen angegeben worden, während hier diese Grundlagen, wie ausdrücklich gesagt wird, nur kurz und andeutungsweise berührt werden. Bei den drei Einzelpunkten, die Du nennst, scheint es mir so, daß gerade hier keine Anlehnung an Wittgenstein\IN{\wittgenstein} vorliegt. Ich muß aber gestehen, daß ich infolge meiner unhistorischen Einstellung und meines schlechten Gedächtnisses immer unsicher darüber bin, ob etwas, was ich sage, von einem andern stammt, und von wem. Ich habe jetzt zur Vorsicht noch einmal den Tractatus\IW{\tractatus} und Waismanns\IN{\waismann} Thesen\IW{\waismannthesen}\fnE{F. Waismann: Thesen. -- In: Wittgenstein und der Wiener Kreis. [Wittgenstein Werkausgabe, Bd. 3] -- Frankfurt a.M., 1984. -- S. 233 -- 261.} durchgeblättert. Zu den einzelnen Punkten: 1. S.\,435 f. Daß auch die sog. Aufweisung eine Definition im \neueseite{} eigentlichen Sinne ist und daher nicht aus der Sprache herausführt, wollte ich in erster Linie gegen Reichenbach\IN{\reichenbach} sagen. Ich vermute auch, daß es der üblichen Auffassung widerspricht. Aber ich weiß nicht, ob nicht schon früher jemand dasselbe gesagt hat. Waismann\IN{\waismann} (Thesen\IW{\waismannthesen} S.\,16) sagt aber ausdrücklich das Gegenteil. 2. S.\,440 über Hypothese. Ich denke nicht, daß diese Auffassung neu ist, weiß aber nicht, von wem sie stammt. Jetzt sagte mir Reichenbach\IN{\reichenbach} in Berlin, daß diese Auffassung von ihm in seinen früheren Schriften zum ersten Mal ausgesprochen sei. Ich glaube aber doch, daß sie vor Reichenbach\IN{\reichenbach} und Wittgenstein\IN{\wittgenstein} schon vertreten worden ist; vielleicht von Poincar\'{e}\IN{\poincare}? 3. Unterscheidung zwischen formaler und inhaltlicher Redeweise; Ausschaltung von Scheinfragen durch formale Redeweise. Gerade in diesem Punkte glaubte ich einen wesentlichen Schritt über W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} hinauszutun. Hier sind ja nicht die Scheinfragen der Metaphysiker gemeint, sondern die Scheinfragen, wie sie in unsrer wissenschaftlichen Philosophie zuweilen auftreten. Die abzulehnende, inhaltliche Redeweise ist diejenige, in der (wie ich S.\,456 gesagt habe) die Arbeiten unseres eigenen Kreises\II{\schlickzirkel} bisher geschrieben sind. Das gilt in erster Linie auch für den Tractatus\IW{\tractatus}, an dessen Redeweise wir uns ja in vielem angeschlossen haben. Wenn ich also hier W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} hätte nennen wollen, so hätte ich es nur polemisch tun können; das habe ich absichtlich vermieden. Trotzdem gehen natürlich die Überlegungen, die mich zu diesem Punkt geführt haben, einfach aus einer konsequenten Durchführung unsrer philosophischen Grundauffassung hervor, für die wir ja W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} sehr vieles verdanken. Ich glaube deshalb auch, daß ich in diesem Punkte zwar der Praxis von W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} widersprechen muß, mit seiner Grundauffassung aber im Einklang bin. Ich möchte nochmals betonen, daß es leicht sein kann, daß ich mich in einigen Punkten historisch irre und daß ich von W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} und Andern viel stärker abhängig bin, als ich mir ausdrücklich bewußt mache. Aber das ist ja auch nicht sehr wichtig. In meiner Semantik\IC{\logischesyntax} gebe ich viele Hinweise auf die bisherige Literatur. Ich möchte nämlich, daß das Buch\IC{\logischesyntax} auch für diejenigen, die noch keine Kenntnisse in Logik haben, als Einführung in die Probleme der Logik dienen kann. Beim formalen Aufbau verweise ich natürlich in erster Linie auf Frege\IN{\frege}, Russell\IN{\russell}, Hilbert\IN{\hilbert}, die Warschauer, Gödel\IN{\goedel}; im Kapitel über Semantik und Philosophie auf W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein}. Ich bin sicher, daß wir uns über alle Fragen, sowohl die sachlichen, wie die historischen, bei mündlicher Besprechung schnell verständigen würden. Allerdings bin ich mir inbezug auf die Protokollsätze in manchen Punkten selbst noch nicht klar. Aber gerade darüber würde ich gern einmal mit Dir sprechen. Ich hoffe, daß Feigl sich eingehend mit Dir unterhalten hat und über Deine Auffassung in manchen der Fragen, die wir zusammen besprechen wollen, berichten kann. Ich freue mich sehr auf die Gespräche mit ihm. Und überhaupt auf unser auch außerwissenschaftliches Zusammensein. Nun wünsche ich Dir vor allem recht gute Erholung und schönes Wetter, schöne Stunden in und am See, und, sobald es Deine Kräfte wieder erlauben, auf den Bergen. Grüße bitte auch Deine Frau\IN{\schlickfrau} und Tochter\IN{\schlickbarbara}. Dir herzliche Grüße, auch von Ina\IN{\ina},} \grussformel{Dein\\ Carnap} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870819}{MS 95/Carn-31 (Dsl. RC 029-29-09)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag XVII. \,/\, N. Motol, Pod Homolkou}, msl. \original{den 17.\,Juli 1932}.}