\brief{Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 14. Mai 1932}{Mai 1932} %14.Mai 1932. \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Bemerkungen zu Ihrer ,,Metalogik``\IC{\logischesyntax} machen, die hauptsächlich auf Bedenken gegenüber Ihrer Auffassung bezüglich des Sinns der ,,Metalogik`` zurückgehen. Aber vorher will ich Ihnen nochmals \uline{herzlichst} dafür danken, daß Sie mir diese wichtige Arbeit, die ich mit größtem Interesse studiert habe, im M.S.\IC{\logischesyntax} zugänglich gemacht haben. Meine Einwände richten sich im Wesentlichen gegen Ihre Auffassung der Metalogik als Sprache über die Sprache und -- im Zusammenhang damit -- gegen Ihre m.\,E. mehrdeutige Verwendung des Begriffes ,,formal``. Sie unterscheiden (vgl. etwa S.\,6 unten u. S.\,7) die Ausdrücke (Wörter, Sätze) der zu behandelnden Sprache, die -- bei inhaltlicher Deutung -- von den Dingen sprechen und die Ausdrücke der Metalogik, die über jene Ausdrücke erster Art sprechen. Meiner Meinung nach sind nun für die Sätze der Metalogik die Sätze der Sprache keineswegs in demselben Sinne ,,Gegenstände worüber``, wie es für die Sprache die Dinge der Welt sind. Die ,,echten`` empirischen Sätze der Sprache sind Verknüpfungen von Lokalzeichen mit Qualitäten (jetzt, hier, so; dann, dort, so, ect.); hier sind also tatsächlich die Prädikate denkunabhängig von den Subjekten; in der \uline{reinen} Metalogik aber ist dies nicht der Fall und demgemäß enthält diese keine Sätze über Sätze sondern -- wie Wittgenstein\IN{\wittgenstein} prinzipiell richtig gesehen hat -- \uline{Verdeutlichungen} von Sätzen. Es wird hiebei eine thematische Wendung von den ,,Objekten der Welt`` zum \uline{deutlichen Denken} dieser Objekte vollzogen, wobei aber wohl zu beachten ist, daß das Denken hier keineswegs in dem Sinne ,,Gegenstand worüber`` ist, wie es die Gegenstände der \neueseite{} Welt in der Ausgangssprache sind, denn das ,,deutliche Denken`` ist durch keinerlei Lokalzeichen empirisch determiniert sondern nur durch seinen Inhalt bestimmt. Diesen radikalen Unterschied scharf hervortreten zu lassen, würde ja auch ganz in der Linie Ihrer Arbeit liegen, in der Qualitäten und Lokalzeichen symbolisch mit aller wünschenswerten Deutlichkeit auseinandergehalten werden. Sohin erscheint mir auch Ihre Bildung eines Begriffes der Metalogik, unter welchen neben der bisher als ,,Metalogik`` bezeichneten ,,reinen`` Metalogik noch die ,,deskriptive Metalogik`` (also ein Inbegriff empirischer Sätze) fällt, als nicht glücklich. Diese Begriffsbildung ist darum besonders gefährlich, weil sie den Umstand verschleiert, daß nur die Sätze der ,,deskriptiven Metalogik`` Sätze über das stoffliche (sensuelle) Substrat der Sprachzeichen sind, nicht aber die Sätze der reinen Metalogik, auf deren Verständnis es ja in allererster Linie ankommt. Machen wir uns dies an einem Ihrer Beispiele von metalogischen Sätzen klar. ,,Ist ein Ausdruck zusammengesetzt aus der und der (syntaktischen) Art in der und der Reihenfolge, so ist er ein Satz.`` Wir haben bei Wörtern den sinnlichen Stoff (die figuralen oder akustischen Momente) und die Bedeutung zu unterscheiden. Letztere darf nun nicht so interpretiert werden, als wäre es eine Eigenschaft des ,,Stoffes`` diese Bedeutung zu haben. Diese Ausdrucksweise ist ja nur eine Abkürzung dafür, daß in einem mehr oder minder genau bestimmten Kreis psychophysischer Subjekte die ,,Aktualisierungen`` stofflicher Momente der angegebenen Art (also das Schreiben, Zeichnen, Sprechen) als Zeichen (Symptome) für das Denken bestimmter Gegenstände und damit auch für diese Gegenstände selbst gelten. \neueseite{} Wenn man demgemäß den in Rede stehenden Satz unverkürzt ausspricht, so tritt er als Aussage über das Verhalten (die Symptomsetzung) schreibender (zeichnender, sprechender) Menschen zutage. Insbesondere muß beachtet werden, daß sich formale (syntaktische) ,,Eigenschaften von Sätzen`` nur dadurch am ,,Zeichenstoff`` (den figuralen oder akustischen Momenten) zeigen, daß bestimmte Konventionen über dessen symptomatischen Gehalt bestehen; aber man darf solche Konventionen nicht in der Weise auffassen, daß sie einem Phänomen eine bisher nicht gehabte Eigenschaft zuteilen. Diese eben für die Bedeutungs\uline{zuordnung} gemachte Feststellung gilt nun ganz allgemein für beliebige Zuordnungen, insbesondere für Nominaldefinitionen. Die Einführung eines neuen Zeichens $Z_{n}$ für einen Zeichenkomplex $Z_{1}\ldots Z_{i}$ ist keine Aussage über $Z_{1}\ldots Z_{i}$. (Die Nichtbeachtung des Gesagten kann u.\,a. die Notwendigkeit der Einführung des erweiterten Funktionenkalküls vortäuschen.) Erkennt man demgemäß, daß sich das ,,Formale`` nicht als dasjenige bestimmen lässt, was den figuralen Momenten ohne Rekurs auf die Bedeutung zu entnehmen ist, so ergibt sich weiters die Mehrdeutigkeit Ihres Begriffes des Formalen. Nehmen wir Ihr Beispiel ,,Piroten karulieren elatisch``, so sind die Angaben, daß ,,Piroten`` ein Substantiv, ,,karulieren`` ein Verb in der 3. Person Plur. Ind., ,,elatisch`` ein Adverb ist, zweifellos Aussagen über Bedeutungen. Die Klassifikation der verschiedenen Wortarten ist ja eine Klassifikation nach Bedeutungsdifferenzen. Ein (echtes) Substantiv bedeutet eine Person oder ein Ding, ein echtes Verbum einen Zustand oder Vorgang, ect. Nun kann man freilich den Begriff des Formalen relativieren und Stufen des Formalen unterscheiden und dann ,,Ding``, ,,Zustand``, ,,Person``, ect. als formal gegenüber inhaltsreicheren Begriffen bezeichnen, aber sie sind nicht in dem ,,absoluten`` Sinne formal, wie die \neueseite{} Begriffe des Aussagen- oder Funktionenkalküls. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die herkömmliche Auffassung des Verhältnisses zwischen Mathematik und Metamathematik bzw. zwischen Logik und Metalogik nicht haltbar ist. Weitere Überlegungen führen dann -- meiner Meinung nach -- zu dem Ergebnis, daß die Hauptprobleme der Metamathematik (Beweisbarkeit, Widerspruchsfreiheit) keineswegs grundsätzlich verschieden von denen der Mathematik sind; -- es handelt sich ja in beiden Fällen um eine Zergliederung der Axiome -- , sondern daß zwischen beiden ein ähnliches Verhältnis besteht, wie etwa zwischen den beiden Hauptproblemgruppen in der Lehre von den quadratischen Formen in der Zahlentheorie. Von hier aus erscheint auch die von Ihnen vollzogene Formulierung der Metalogik einer Sprache in dieser Sprache erkenntnistheoretisch in einem anderen Licht und desgleichen Ihre Überlegungen über die philosophische Bedeutung der Metalogik. Mit besonderer Freude habe ich den Absatz I.\,C ,,Bemerkungen zur Begründung der Modellsprache`` gelesen. Hier möchte ich Sie nur zu überlegen bitten, ob nicht die Schwierigkeiten in der Theorie der Irrationalzahlen, die scheinbar bei Ausschaltung des erweiterten Funktionenkalküls entstehen, mit der richtigen Auffassung der All-Sätze und der Existentialsätze wegfallen und ob nicht Ihre Ausführungen S.\,91 f. gegenüber denjenigen von S.\,87 ff. eine Inkonsequenz bedeuten. Im übrigen deckt sich meine Position durchaus mit derjenigen Ihrer Modellsprache, insbesondere auch in ihrer Abweichung von Intuitionismus; dies gilt namentlich auch in Hinblick auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Ich glaube daher nicht, daß meine Auffassung als intuitionistische (Brouwer'scher\IN{\brouwer} Richtung) bezeichnet werden kann. \neueseite{} Die oben angeführten Divergenzen treten natürlich an einer großen Zahl von Stellen Ihrer Arbeit\IC{\logischesyntax} zutage, doch dürfte Ihnen wohl nicht viel damit gedient sein, wenn ich meine diesbezüglichen, beim Studium gemachten Anmerkungen an Sie übermittele. Im übrigen ist der Stil der Arbeit von so musterhafter Klarheit, daß mir kaum an irgendeinem Punkt eine wesentliche Verbesserung wünschenswert erscheint. Für eine zuverlässige Überprüfung der einzelnen Formeln bin ich mangels Übung nicht der richtige Mann. Hier ist ja übrigens die sachverständige Durchsicht gewiß bereits von Herrn Gödel\IN{\goedel} vollzogen worden. Wie mir Herr Hempel\IN{\hempel} schreibt, wird er im Reichenbach-Kreise\II{} Referate über Ihr M.S.\IC{\logischesyntax} halten, welche Ihren zu Beginn des Sommers hierüber in Berlin stattfindenden Vortrag vorbereiten sollen. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich ihm einen Durchschlag dieses Briefes zuschicken und erwarte Ihren diesbezüglichen Bescheid. Ferner möchte ich Sie um Mitteilung bitten, wohin ich Ihr M.S.\IC{\logischesyntax} senden soll. Bei uns geht jetzt alles sehr gut, insbesondere freut sich unser ,,unmittelbarer Nachfolger``\IN{\kaufmannkind} seines Lebens. Wir beide bedauern es sehr, Sie schon so lange nicht gesehen zu haben und hoffen, daß es Ihnen in Prag recht gut geht. Nochmals herzlichen Dank und die freundlichsten Grüße} \grussformel{von Ihrem\\ Felix Kaufmann} \ebericht{Brief, msl., 5 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870136}{RC 028-23-19 (Dsl. FK 008111-008120)}; Briefkopf: gestempelt \original{Dr. Felix Kaufmann \,/\, Tel\blockade{unl., aber Vergleich vorher} Wien XIX., Döblinger Hauptstraße 90}, msl. \original{14.\,Mai 1932}.}