\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Wien,} (um den) 10.~Mai 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 10. Mai 1932}{Mai 1932}\labelcn{1932-05-10-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Anbei Bericht über meinen Vortrag.\fnEE{\labelcn{1932-05-10-Vortrag-Fremdpsychisches}Kurzbericht über den am 29.~April 1932 im \textit{Verein Ernst Mach} gehaltenen Vortrag ,,Das Fremdpsychische in der Soziologie``, \textit{Erkenntnis} 3, 1932/33, 105f.} Da der Verein Ernst Mach\II{\machverein} seine vertragsmäßig zustehenden Seiten nur bescheiden ausnutzt, soll Reichenbach\IN{\reichenbach} alles \gesperrt{rasch} bringen. Hans\IN{\hahnhans}\fnE{Gemeint ist Hans Hahn.} war weitgehend einverstanden. Er hätte nur gerne dem Eigenpsychischen ein bisserl was Schönes gerettet. Aber er muß zugeben, daß die Eigenprotokolle sich nur dadurch auszeichnen, daß die meisten Protokollierenden besonders stark an ihnen festhalten, aber sonst haben sie keine Eigenheiten!!! Deshalb das Robinsonbeispiel wichtig.\fnEE{Ein ,,Robinson-Beispiel`` verwendet Neurath im erwähnten Vortrag, aber auch schon früher in \textit{Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie} (\href{https://doi.org/10.48666/990988}{ON 191/K.2}), 13, und später in ,,Protokollsätze``, 211\,/\,GphmS 582.} Max Adler\IN{\adlermax} war im Zustand sukzessiver Explosion. Er meinte privat zu mir, wir seien zuchtlose Denker, von Scholastik und sonstigem zu schweigen, nur die allein seligmachende Erkenntniskritik könne uns retten. Neider\IN{\neider} sehr zustimmend, zwar nicht schwungvoll, aber weise veranlagt. ,,Semantik`` wird durch diese Mitteilung nicht süffiger. Da die ,,Mantik`` jedem als Seherkunst bekannt ist, wird der nicht Hochgebildete meinen, daß die \hbox{,,Se-mantik``} eine Abart der Mantik ist. Bitte schreib mir gleich, was Frank\IN{\frankphilipp} dazu meint. Semantisch habe ich Dir ja als gebräuchlich nachgewiesen. Semasiologie gibt es auch -- Bedeutungslehre. Ich finde ,,logische Syntax``\IC{\logischesyntax} schon reichlich gelehrt. Ich würde mich Deiner Terminologie wahrscheinlich nicht anschließen, sondern versuchen, die ,,logische Syntax``\IC{\logischesyntax} durchzusetzen, die doch für Leute mit Halbbildung noch sinnvoll ist. \neueseite Ich fände Syntax sogar ganz gut, es gäbe dann eine linguistische Syntax, eine logische Syntax usw. Bühler\IN{\buehlerkarl} schreibt an einer allgemeinen linguistischen Syntax. Der Zusammenhang damit wäre nicht das Schlimmste. Ich fürchte ohnehin die \textkritik{,,ideale Sprache``}\fnA{\original{,,ideale`` Sprache``}} als Metaphysikum, das Wort Syntax hat so was Mildes, Menschlich-Übliches an sich. Semantik ist so preußisch-idealistisch, fordernd, es ist, glaube ich, nicht einmal ganz sinngetreu. Neue Worte ohne Anklang sind bedenklich. Für die meisten Menschen ist Semantik ganz fremd, ohne Assoziation. Was gibt es für Neubildungen? Soziologie. Verständlich, wenn auch ein Mischwort. Behaviorismus. Gut. Individualpsychologie -- nicht sehr bedeutungstreu. Psychoanalyse, gut. Logistik, gut. Kennst Du noch eine so fremde Wortbildung wie Semantik? Und dabei wollen wir populär werden, wollen, daß unser Lied gesungen wird! Das Lied vom Wiener Kreis\II{\schlickzirkel}, von der Einheitswissenschaft, vom Physikalismus (Fiskalismus, meint Frank\IN{\frankphilipp}), von der Logistik, von der logischen Syntax. Angeblich gedeiht Waismanns\IN{\waismann} Buch\IW{\waismannbuch},\fnEE{Siehe Anm.~\refcn{1932-01-12-Neurath-Hahn-an-Carnap-Waismann}.} aber Wittgenstein\IN{\wittgenstein} gebärt ständig rätselhafte Thesen, die sich schwer immer voll umformen lassen.\fnE{\labelcn{1932-05-10-Neurath-an-Carnap-Waismann-Buch}Seit 1929 immer wieder angekündigt, erschien Waismanns im Wesentlichen 1939 fertiggestelltes Buch \emph{Logik, Sprache, Philosophie} erst posthum. Ursprünglich als Darstellung und Erläuterung des \textit{Tractatus} konzipiert, veränderte sich der Charakter des Buches im Verlauf der schwierigen Zusammenarbeit mit Wittgenstein erheblich. Zur Entstehungsgeschichte vgl. die Zusammenfassung in Friedl, ,,The Vienna Circle and Wittgenstein``, S.\,281f., bzw. ausführlicher Manninen, ,,Waismann's Testimony of Wittgenstein's Fresh Starts in 1931--35``.} Eine komische Art Bücher zu verfassen, Ausfluß der zufälligen fremden Ablaufsform. Wittgenstein\IN{\wittgenstein} sollte das Buch\IW{\waismannbuch} schreiben und Waismann\IN{\waismann} ihm assistieren. Aber bei Sektierern ist alles anders. Die Hauptsache ist, daß ihre Sektenlehre sich der wahren Lehre, wie wir sie jetzt vertreten, immer mehr annähert. Neider\IN{\neider} stellte Betrachtungen darüber an, ob es historisch möglich sei, daß meine unermüdliche Kritik im Zirkel\II{\schlickzirkel} via Waismann\IN{\waismann} zu Wittgenstein\IN{\wittgenstein} gedrungen sei, oder ob eben die bekannte Duplizität der Ereignisse infolge der sozialen Gesamtlage gleichartiges Verhalten der Gesamtklasse bedinge. \neueseite{}\zzz Bin jedenfalls neugierig, wie unsere nüchternen Thesen über die Aussagen, die mit Aussagen verglichen werden, in der blümeranten Diktion schwerverständlichen Wittgensteinismus sich ausnehmen werden. Ob wohl ein Eckchen für die Mystik reserviert bleibt? Prächtig ist Franks\IN{\frankphilipp} Buch\IW{\frankkausalgesetz}.\fnEE{Frank, \textit{Das Kausalgesetz und seine Grenzen}.} Besprichst Du es? Ein Franzose hat uns wegen Verein Ernst Mach\II{\machverein} geschrieben, ich werde Dir gelegentlich Näheres mitteilen. \unsicher{Pariser} Gruppe\II{\fondation} sandte ihre Zeitschrift\II{\revuesynthese}.\fnEE{Gemeint sind wohl die \textit{Fondation ,,Pour la Science`` -- Centre International de Synthèse} und die Zeitschrift \textit{Revue de Synthèse}; vgl. dazu Nemeth/Roudet, \textit{Paris -- Wien}.} Wir werden schon noch eine \gesperrt{Bewegung} aus einem Kreis. Grüß mir Ina\IN{\ina}, grüß mir die Franks\IN{\frankphilipp}\IN{\frankphilippfrau}. Ich rutschte gern zu Euch hinüber, wenn ich nur eine Vortrags\-einladung erhielte. Kannst Du mir die bewußten 80 Schilling gelegentlich überwiesen? Scheckkonto 26.4.99 Postsparkasse. Politik ringsum! Juda verrecke! Studentenrecht! Usw. Große Maifeier. Die Welt ist übel. D.\,h. es gibt Inseln, die wesentlich erfreulicher sind als der Durchschnitt. Sinnvolle Aussage? Alles Gute} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/825452}{RC 029-12-49}; Briefkopf: hsl. \original{ca. 10.\,5.\,32}; dementsprechend ist die Datierung nur als Näherungswert zu verstehen.}