Neurath an Carnap, Wien‚ (um den) 10. Mai 1932 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 10. Mai 1932 Mai 1932

Lieber Carnap!

Anbei Bericht über meinen Vortrag. Da der Verein Ernst MachIVerein Ernst Mach seine vertragsmäßig zustehenden Seiten nur bescheiden ausnutzt, soll ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph alles rasch bringen.

HansPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn1Gemeint ist Hans Hahn. war weitgehend einverstanden. Er hätte nur gerne dem Eigenpsychischen ein bisserl was Schönes gerettet. Aber er muß zugeben, daß die Eigenprotokolle sich nur dadurch auszeichnen, daß die meisten Protokollierenden besonders stark an ihnen festhalten, aber sonst haben sie keine Eigenheiten!!!

Deshalb das Robinsonbeispiel wichtig.

Max AdlerPAdler, Max, 1873–1937, öst. Soziologe und Philosoph war im Zustand sukzessiver Explosion. Er meinte privat zu mir, wir seien zuchtlose Denker, von Scholastik und sonstigem zu schweigen, nur die allein seligmachende Erkenntniskritik könne uns retten.

NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger sehr zustimmend, zwar nicht schwungvoll, aber weise veranlagt.

„Semantik“ wird durch diese Mitteilung nicht süffiger. Da die „Mantik“ jedem als Seherkunst bekannt ist, wird der nicht Hochgebildete meinen, daß die „Se-mantik“ eine Abart der Mantik ist. Bitte schreib mir gleich, was FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank dazu meint. Semantisch habe ich Dir ja als gebräuchlich nachgewiesen. Semasiologie gibt es auch – Bedeutungslehre. Ich finde „logische Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 schon reichlich gelehrt. Ich würde mich Deiner Terminologie wahrscheinlich nicht anschließen, sondern versuchen, die „logische Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 durchzusetzen, die doch für Leute mit Halbbildung noch sinnvoll ist. 🕮

Ich fände Syntax sogar ganz gut, es gäbe dann eine linguistische Syntax, eine logische Syntax usw. BühlerPBühler, Karl, 1879–1963, dt.-am. Psychologe, verh. mit Charlotte Bühler schreibt an einer allgemeinen linguistischen Syntax. Der Zusammenhang damit wäre nicht das Schlimmste. Ich fürchte ohnehin die „ideale Sprache“a„ideale“ Sprache“ als Metaphysikum, das Wort Syntax hat so was Mildes, Menschlich-Übliches an sich. Semantik ist so preußisch-idealistisch, fordernd, es ist, glaube ich, nicht einmal ganz sinngetreu.

Neue Worte ohne Anklang sind bedenklich. Für die meisten Menschen ist Semantik ganz fremd, ohne Assoziation. Was gibt es für Neubildungen? Soziologie. Verständlich, wenn auch ein Mischwort. Behaviorismus. Gut. Individualpsychologie – nicht sehr bedeutungstreu. Psychoanalyse, gut. Logistik, gut. Kennst Du noch eine so fremde Wortbildung wie Semantik? Und dabei wollen wir populär werden, wollen, daß unser Lied gesungen wird!

Das Lied vom Wiener KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis, von der Einheitswissenschaft, vom Physikalismus (Fiskalismus, meint FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank), von der Logistik, von der logischen Syntax.

Angeblich gedeiht WaismannsPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann BuchBWaismann, Friedrich!1976@Logik, Sprache, Philosophie, Stuttgart, 1976‚ aber WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph gebärt ständig rätselhafte Thesen, die sich schwer immer voll umformen lassen.2Seit 1929 immer wieder angekündigt, erschien Waismanns im Wesentlichen 1939 fertiggestelltes Buch Logik, Sprache, Philosophie erst posthum. Ursprünglich als Darstellung und Erläuterung des Tractatus konzipiert, veränderte sich der Charakter des Buches im Verlauf der schwierigen Zusammenarbeit mit Wittgenstein erheblich. Zur Entstehungsgeschichte vgl. die Zusammenfassung in Friedl, „The Vienna Circle and Wittgenstein“, S. 281f., bzw. ausführlicher Manninen, „Waismann’s Testimony of Wittgenstein’s Fresh Starts in 1931–35“. Eine komische Art Bücher zu verfassen, Ausfluß der zufälligen fremden Ablaufsform. WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph sollte das BuchBWaismann, Friedrich!1976@Logik, Sprache, Philosophie, Stuttgart, 1976 schreiben und WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann ihm assistieren. Aber bei Sektierern ist alles anders. Die Hauptsache ist, daß ihre Sektenlehre sich der wahren Lehre, wie wir sie jetzt vertreten, immer mehr annähert. NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger stellte Betrachtungen darüber an, ob es historisch möglich sei, daß meine unermüdliche Kritik im ZirkelISchlick-Zirkel, Wiener Kreis via WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann zu WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph gedrungen sei, oder ob eben die bekannte Duplizität der Ereignisse infolge der sozialen Gesamtlage gleichartiges Verhalten der Gesamtklasse bedinge. 🕮{}Bin jedenfalls neugierig, wie unsere nüchternen Thesen über die Aussagen, die mit Aussagen verglichen werden, in der blümeranten Diktion schwerverständlichen Wittgensteinismus sich ausnehmen werden. Ob wohl ein Eckchen für die Mystik reserviert bleibt?

Prächtig ist FranksPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank BuchBFrank, Philipp!1932@Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Wien, 1932. Besprichst Du es?

Ein Franzose hat uns wegen Verein Ernst MachIVerein Ernst Mach geschrieben, ich werde Dir gelegentlich Näheres mitteilen. Pariser GruppeIFondation „Pour la Science“ – Centre International de Synthèse sandte ihre ZeitschriftIRevue de Synthése. Wir werden schon noch eine Bewegung aus einem Kreis.

Grüß mir InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap, grüß mir die FranksPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef FrankPFrank, Hania, 1894–1967, geb. Gerson, verh. mit Philipp Frank.

Ich rutschte gern zu Euch hinüber, wenn ich nur eine Vortrags­einladung erhielte.

Kannst Du mir die bewußten 80 Schilling gelegentlich überwiesen? Scheckkonto 26.4.99 Postsparkasse.

Politik ringsum! Juda verrecke! Studentenrecht! Usw. Große Maifeier. Die Welt ist übel. D. h. es gibt Inseln, die wesentlich erfreulicher sind als der Durchschnitt. Sinnvolle Aussage?

Alles Gute

Dein
ON

Brief, msl., 3 Seiten, RC 029-12-49; Briefkopf: hsl. ca. 10. 5. 32; dementsprechend ist die Datierung nur als Näherungswert zu verstehen.


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