Rudolf Carnap an Heinrich Behmann, 17. April 1932 April 1932

Lieber Herr Behmann!

Ich habe das MSB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 mit Ihren zahlreichen Bemerkungen erhalten und möchte Ihnen noch einmal herzlich danken für die viele Mühe, die Sie sich damit gegeben haben.

Zur Frage der Arithmetisierung. Ich hatte ursprünglich die Metalogik der Modellsprache in nicht-arithmetisierter Form aufgestellt, sah dann aber schließlich, daß an einem bestimmten Punkt nicht durchzukommen war. Ich hatte eine Reihe von Grundbegriffen (z. B. Prädikate für die verschiedenen Zeichenarten) und Axiome aufgestellt. Ich konnte fast alle metalogischen Begriff auf diese Weise definieren: die der Syntax und die der Basis der Schlußlehre („Grundformel“, „unmittelbare Folge“); auch: „x ist Beweis für y“ u. dgl.; aber nicht: Beweisbarkeit (ohne Bezug auf einen bestimmten Beweis) und Ableitbarkeit. Vgl. beiliegendes Blatt (bitte zurück), das ich zur Erläuterung in das MSB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 einfügen will. Ich kam mit meinen Überlegungen zu dem Ergebnis, daß es zwar theoretisch auch möglich sein müsse, diese Möglichkeitsbegriffe ohne Arithmetisierung zu definieren. Ich fand aber keinen Weg, der praktisch einfacher wäre als die GödelschePGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker Arithmetisierung; ja auch keinen, den ich als praktisch durchführbar (d. h. nicht ungeheuer umständlich) erkannt hätte (obwohl es vielleicht einen solchen geben mag).

Zur formalistischen Auffassung der Logik. Man kann die formale Logik allerdings auch auf Gedanken beziehen (so wie die Arithmetik auf Äpfel); aber mir scheint, das für die Logik allein Relevante an dem Gedanken ist die syntaktische Form (wie für die Arithmetik nur Identität und Verschiedenheit der Dinge relevant sind). Der FregeschenPFrege, Gottlob, 1848–1925, dt. Mathematiker und Philosoph Forderung, daß man den Zahlzeichen auch eine Bedeutung geben müsse, stimme ich zu. Aber ich glaube, daß man zur Erfüllung dieser Forderung nicht aus der Metalogik hinausgehen muß. Nach meiner Auffassung ist die Forderung dann erfüllt, wenn durch Aufstellung bestimmter syntaktischer und Schluß-Regeln die Anwendung von Zahlzeichen in empirischen Sätzen ermöglicht wird. „Eine Deutung für einen Kalkül (hier: für die Arithmetik) geben“ heißt: „den Kalkül einordnen in eine Gesamtsprache (d. h. eine solche, die auch empirische Sätze enthält)“. Mit dieser Auffassung glaube ich Logizismus (FregePFrege, Gottlob, 1848–1925, dt. Mathematiker und Philosoph) und Formalismus (HilbertPHilbert, David, 1862–1943, dt. Mathematiker) ihrer grundsätzlichen Einstellung nach zu versöhnen. Vielleicht wird meine Auffassung Ihnen noch klarer werden durch das letzte Kapitel des zweiten Teils, in dem ich zu zeigen versuche, daß alle (sinnvollen) philosophischen Fragen metalogische Fragen sind.

Ich arbeite jetzt an diesem zweiten Teil, der wahrscheinlich 🕮 ebenso lang wird, wie der erste. Ich hoffe, in den nächsten Monaten damit fertig zu werden. Vielleicht darf ich ihn Ihnen dann auch zuschicken.

Der Terminus „Semantik“ sagt mir zu; auch GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker schlug ihn gleichzeitig vor. NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath aber findet ihn unsympathisch und gelehrtenhaft; er schlägt „Syntax“ vor. Zur Vermeidung der Verwechslung mit der philologischen S[yntax] müßte man dann wohl häufig „logische Syntax“ sagen.

Anstatt „Prädikat“ und „Qualität“ will ich lieber „Relation“ sagen (u. zwar für das Zeichen!) und unterscheiden: arithm[etische] Relation, deskriptive Relation. Auch WeylPWeyl, Hermann, 1885–1955, dt.-am. Mathematiker und Physiker spricht von ein- und mehrstelligen Relationen. Die Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch im Falle der einstelligen R[elationen] dürfte wohl keine allzu schlimme Härte sein.

Hoffentlich haben wir im Sommer einmal Gelegenheit, uns mündlich ausführlicher über verschiedene Probleme, besonders über die formalistische Auffassung, zu besprechen.

Mit besten Grüßen

Ihr
R. Carnap

Brief, msl., 2 Seiten, RC 115-10-19; Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Prag XVII, N. Motol, Pod Homolkou, msl. den 17. April 1932.


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.