\brief[Neurath an Carnap, Wien, 9.~April 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 9. April 1932}{April 1932} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Weder ich noch Olga\IN{\neuratholga} können uns mit Semantik befreunden. Ein übles Wortbild, an ,,Mantik``, Seherkunst erinnernd. Fremd und gelehrtenhaft im unguten Sinne. Dazu kommt, daß, wie die gelehrte Frau weiß, Semantik überdies noch falsch ist, es heißt ,,Semiotik``,\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{nein!}}.} Semeion heißt das Zeichen, davon Semiotik -- die Lehre von den Kennzeichen der Krankheit. Als Zeichenlehre schlechthin bei Leibnitz\IN{\leibniz}, Lambert\IN{\lambert}, aber in sehr engem, wenig erfreulichem Sinn. Sema das Zeichen kennt keine Semantik. Wir meinen beide, daß SYNTAX -- Logische Syntax\IC{\logischesyntax} -- Allgemeine Syntax oder dgl. viel besser klingt und zur Not popularisiert werden kann. Logische Syntax klingt vertraut, Semiotik altväterisch-gravitä\-tisch. Syntax klingt scharf und hell. Mit Randin\IN{\rand} sprach ich über meinen Scientiaartikel\IW{\neurathscientia}.\fnE{Neurath, ,,Physikalismus``.} Es ist schade, daß sie so hochmütig sich isolierend durch die Welt geht. Sie ist klug. Aber nicht so klug, um so hochmütig sein zu können. Merkwürdig, wenn sie von Waismann\IN{\waismann} erzählt, der völlig von den täglichen Anschauungsschwankungen Wittgensteins\IN{\wittgenstein} abhängig ist, und, wie es scheint, unmittelbarer Sachbeeindruckung nicht zugänglich ist, wenn sie nicht vom ,,tiefschürfenden`` Wittgenstein\IN{\wittgenstein} ausgeht. Na ja. Vielen Dank für die Adressen. Grüß die Franks\IN{\frankphilipp}\IN{\frankphilippfrau} und Ina\IN{\ina}. Hoffentlich arrangiert Ihr bald einen Lichtbildervortrag über Weltwirtschaftskrise und Weltwirtschaftsplan. \neueseite{}\zzz Zur Fortsetzung vieler Gespräche. Wie steht es mit der Brochure\IW{} bei Meiner\II{\meinerverlag}\IW{\meinerfelix} mit den drei Artikeln\IC{\psychologiesprache}\IW{\dunckerentgegnung}\IC{\erwiderung}.\fnEE{Zu diesem Zeitpunkt war geplant, Carnap, ,,Psychologie in physikalischer Sprache``, zusammen mit Duncker, ,,Behaviorismus und Gestaltpsychologie``, und der noch zu verfassenden Entgegnung Carnaps auf Duncker (in erweiterter Form dann erschienen als ,,Erwiderung auf die vorstehenden Aufsätze von E. Zilsel und K. Duncker``) zu veröffentlichen.}\fnE{Zu diesem Zeitpunkt war geplant, Carnap, ,,Psychologie in physikalischer Sprache``, zusammen mit Duncker, ,,Behaviorismus und Gestaltpsychologie`` (laut TB bereits am 5.\,4.\,1932 bei Carnap eingelangt), und der noch zu verfassenden Entgegnung Carnaps auf Duncker (in erweiterter Form dann erschienen als ,,Erwiderung auf die vorstehenden Aufsätze von E. Zilsel und K. Duncker``) zu veröffentlichen.} Eventuell etwas umgearbeitet. Ich wüßte gerne Näheres, um mich vorzubereiten. Ich nehme an, daß ich erst Anfang Mai nach Moskau fahre. Mit herzlichen Grüßen} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/825440}{RC 029-12-55}; Briefkopf: msl. \original{Wien. XII. Arndtstraße 1. Stiege 17} und \original{9.~April 1932}; am Briefende ksl. \original{Strafporto!}.}