\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Dresden,} 10.~März 1932]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 10. März 1932}{März 1932}\labelcn{konfliktbrief} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Dein Brief ist ausführlich, aber er berührt nicht einmal den springenden Punkt. Mir lag \uline{nicht} an der Feststellung der Priorität, noch weniger an der Feststellung ihres Grades! Deine jetzige Fußnote geht diesbezüglich über jedes Pflichtmaß hinaus. \uline{Darauf bezieht sich mein Toben nicht}. SONDERN: \neueseite \nneurath{}\inneurath{} schreibt NS\IW{\neurathsoziologie} und gibt den Artikel der Zeitschrift\II{\erkenntnis}.\fnE{Neurath, ,,Soziologie im Physikalismus``.} \ccarnap{}\incarnap{} kennt den Inhalt als Freund und amtlich als Herausgeber. Er schreibt Ph\IC{\physikalischesprache}\fnE{Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``.} auf Grund von NS\IW{\neurathsoziologie} und mündlichen Darlegungen um -- an \ccarnap{}'s\incarnap{} Beschreibung der Abhängigkeit muß nicht gezweifelt werden. Es wären nun in einer Nummer erschienen NS\IW{\neurathsoziologie} und CPh\IC{\physikalischesprache}, ohne Erklärung, \uline{was früher verfaßt wurde}. Wahrscheinlich noch (weil NS\IW{\neurathsoziologie} spezieller) CPh\IC{\physikalischesprache} textlich vor NS\IW{\neurathsoziologie}. \neueseite Was müßte ein harmloser Leser annehmen, der den Rang \ccarnap{}'s\incarnap{} als Denker kennt? Daß \nneurath{}\inneurath{} matt, unzulänglich in seinem Artikel\IW{\neurathsoziologie} deplaciert miterzählt, was er von \ccarnap{}\incarnap{} vorher gehört hat! Wozu redet \nneurath{}\inneurath{} so locker, wenn auch entschlossen über das, was \ccarnap{}\incarnap{} besser sagt? Ich schrieb Dir das schon, leider bemerkst Du nicht, daß \uline{hier} mein Protest begann. Was wäre von mir erwartet worden? \neueseite Der \uline{Freund} will mir eine solche Situation ersparen und schreibt \uline{drei nette Zeilen}; über den Artikel\IW{\neurathsoziologie} in gleicher Nummer und mündliche Äußerungen, die \uline{vor} CPh\IC{\physikalischesprache} vorlagen. Oder der \uline{Kollege} gibt ein Zitat, vielleicht zwei, \uline{ohne weitere} Mitteilung über den Grad der persönlichen Beziehung. Der taktvolle, gewissenhafte \uline{Herausgeber}\IN{\reichenbach} gibt die Einlaufdaten an und hüllt sich sonst in Schweigen. \neueseite \ccarnap{}\incarnap{} hat weder als F\ekl{reund} noch als K\ekl{ollege} noch als H\ekl{erausgeber} in seinem Artikel\IC{\physikalischesprache} auf meine Ausführungen\IW{\neurathsoziologie} über Verhältnis der phys\ekl{ikalischen} Sprache und der Protokollsprache usw. Bezug genommen. Es wäre gut für unsere Beziehung, wenn Du mir irgendwie erklärtest, \uline{wieso Du weder als F\ekl{reund} noch als} K\ekl{ollege} \uline{noch als} H\ekl{erausgeber} \uline{Dich veranlaßt sahst}, obige für mich peinliche Situation zu vermeiden. STATTDESSEN: \neueseite Schickst Du mir, wie ein Advokat, einen formalistischen, unwilligen Brief, der formalistisch Punkt für Punkt Dein Recht, mein Unrecht kennzeichnet und noch zu weiser Einkehr mahnt. Ich will um unserer Beziehungen willen auf dies völlig unpsychologische Schreiben eingehen. Es zeigt, wie gefährlich naiv Du bist, man kann schwer an Hinterhältigkeit glauben. \neueseite Also P\ekl{un}kt 1--5. Es handelt sich \uline{nur} darum, daß ein auf Grund von NS\IW{\neurathsoziologie} \uline{ge\-änderter} Artikel CPh\IC{\physikalischesprache} ohne Vermerk gleichzeitig abgedruckt worden wäre! Den \uline{geänderten} CPh\IC{\physikalischesprache} in einer Nummer vor NS\IW{\neurathsoziologie} abzudrucken, wäre eine Unverfrorenheit gewesen! Es ist lächerlich, eine Bevorzugung darin zu sehn, daß der \uline{geänderte} CPh mit NS\IW{\neurathsoziologie} gleichzeitig erscheinen sollte. Formalismus, von CPh\IC{\physikalischesprache} statt von geändertem CPh\IC{\physikalischesprache} zu sprechen. \neueseite P\ekl{un}kt 6.7. gehört zu 1 und 2 der historischen Abhandlung. Ich hätte \uline{nie} Zitate usw. verlangt, wenn ich nicht aus Prager Telegrammen entnommen hätte, daß die ,,ursprüngliche Fußnote``, \uline{die ich nie sah}, recht mager auf Grund meines ersten Telegramms fabriziert worden war.\fnE{Vgl. oben Carnaps Telegramm vom 6.~Februar (Nr.~\refcn{1932-02-06-Carnap-an-Neurath}) und Neuraths erstes Telegramm vom 28.~Januar (Nr.~\refcn{1932-01-28-Neurath-an-Carnap}); die letztlich publizierte Fußnote findet sich in Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``, S.\,452.} Deine Unpsychologie kennend verlangte ich Zitat als sichersten Ausweg. \neueseite Ich tobte \uline{nicht} über den Inhalt der Fußnote, sondern über den ganzen Vorfall, der durch Deine sehr freundliche Fußnote doch nicht aus der Welt geschafft ist! Dazu fehlt bis jetzt bei Dir die Einsicht in Deine ursprüngliche Unkorrektheit aus -- sagen wir Unpsychologie. Du weißt, wir beide glauben an ,,Verhalten`` ohne klare Formulierung. \neueseite Bei Dir wäre anzunehmen, daß Du offizielle Gelehrte anders behandelst. Ärgere Dich nicht -- das könnte sein! Müßte statistisch erforscht werden. Dein Privatissimum über Zitieren ist deplaciert, weil der von Dir erwähnte Fall nicht hierhergehört, wo eine -- unbeabsichtigte \ekl{--} Irreführung des Lesers\fnA{\original{Lesers --}} zu verhindern war. Die Prioritätsbetrachtungen \neueseite{}\zzz erübrigen sich. Meine Wünsche waren \uline{primär} nur darauf gerichtet zu verhindern, daß ich als komischer Plagiator erscheine, und zur Sicherung verlangte ich Zitierung, wie üblich bei größerer Abhängigkeit, die nicht literarisch jedem bekannt sein muß. Wer liest schon meinen Scientia-Artikel\IW{\neurathscientia}!\fnE{Neurath, ,,Physikalismus``.} Während Sch\ekl{lick}\IN{\schlick}-Leser den \ccarnap{}\incarnap{} und W\ekl{ittgenstein}\IN{\wittgenstein} kennen \neueseite{}\zzz dürften. \uline{Finis}. Also \uline{ohne heftige Gefühle}. Du bist ein gefährlicher Naiver! Wärest es weniger, wenn Du es begriffest. Eine diesbezügliche Mitteilung \uline{würde mich sehr erfreuen}! Dann könnte ich Dir erklären, wie meine Reaktionen abliefen und das entstand, was Du forma\neueseite{} listisch zerzupfst -- die Trauer um einen Freund, der Ärger über einen Kollegen, die Empörung über einen Herausgeber. Oder verstehst Du die Sache noch immer nicht und meinst, mein Toben sei ungerecht?\fnEE{Dieser Konflikt konnte -- zumindest zwischenzeitlich -- in einer Aussprache in Wien bereinigt werden. Siehe TB~24.\,3.\,1932\diaryref{TB-24-3-1932}: ,,8\,--\,11 mit \uline{Neuraths} im ,Auge Gottes`. Unter der Neuräthin sänftigendem Einfluss Aussprache über alles; mehrere Missverständnisse, die beiderseits Ärger erregt hatten, werden aufgeklärt. Neurath beklagt seine Isolierung: ,Prothesenmann`, den wir anderen besonders hilfreich mitnehmen müssten; es ist ihm schwer, dass er nie die Muße hat, richtig ruhig zu arbeiten.`` Vgl. dazu auch unten, Brief~\refcn{1945-08-23-Carnap-an Neurath}.} Gruß an Ina\IN{\ina} und Dich} \grussformel{Dein\\O. Nth} \briefanhang{bis 19.\,III. \uline{hauptpostl\ekl{a}g\ekl{ern}d Dresden}, dann \uline{Wien}} \ebericht{Brief, hsl., 13 Seiten (kleines Format), \href{https://doi.org/10.48666/825432}{RC 029-12-59}; Briefkopf: hsl. \original{10.\,III.\,32}.}