Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 2. März 1932 März 1932

Mir scheint, ich muß den Freunden mal wieder einen Bericht schicken, da ich lange nicht geschrieben habe. Ich war ganz beschämt, daß FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl in der Verwirklichung des Rundbriefes mir zuvorgekommen ist, den wir anstelle des altmodischen individualistischen Briefes einzuführen geplant hatten.

Am 23. Februar hat hier das Sommersemester schon angefangen. Aber meine Ernennung habe ich immer noch nicht. Ich bin Supplent für die Professur, die mir vom Präsidenten der Republik im Juni 1931 verliehen worden ist. Und ich bemühe mich, mich selbst möglichst würdig zu vertreten. Seit 3 Wochen heißt es im MinisteriumIMinisterium in Prag, welches??, daß die Formalitäten jetzt im allerletzten Stadium sind, nämlich bei der Übersetzung des Dekretes ins Deutsche. Seit 3 Wochen soll es mir in den allernächsten Tagen ausgehändigt werden. Für mich ist nur wichtig daran, daß das richtige Gehalt auch erst von der Aushändigung ab gezahlt wird.

Nach 6 Wochen der Staatenlosigkeit bin ich am 5. Januar endlich hier Staatsbürger geworden. Bald darauf kam ich auch sogar schon vor die AssentierungskommissionI, wurde mit den andern Rekruten nackicht unter das Längenmaß und vor das Auge des Arztes gestellt, aber zum Glück als untauglich befunden. Beinahe wäre ich also früher Soldat als Professor geworden.

Ich lese jetzt „Einführung in wissenschaftliche Philosophie“ (3 std.), ähnlich wie vor 3 Semestern in Wien. Damals hatte ich 150 inskribierte Hörer, hier bin ich schon stolz diesmal 14 Hörer (wenigstens zum Anfang) gefunden zu haben. Ferner lese ich 2 std. über „Grundlagen der Geometrie“; und dazu Übungen.

Im Januar habe ich im mathemat[ischen] KränzchenIMathematisches Kolloquium von Karl Menger hier über GödelsPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker letzte ArbeitB referiertB und vorher einmalB zur Vorbereitung darauf über HilbertPHilbert, David, 1862–1943, dt. Mathematiker. Die Dinge fanden sehr lebhaftes Interesse hier. LöwnerPLöwner, Karl, 1893–1968, tschech.-am. Mathematiker und WinternitzPWinternitz, Artur, 1893–1961, tschech.-brit. Mathematiker sind intuitionistisch eingestellt und haben deshalb besonderes Interesse für das Ergebnis, daß die Formalisierung der Mathematik nie zu Ende gebracht werden kann.

Mit FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank habe ich einen DonnerstagabendzirkelISchlick-Zirkel, Wiener Kreis begonnen. Merkwürdigerweise sind viele Russen dabei. Wir haben begonnen meinen MetaphysikaufsatzB1931@„Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, Erkenntnis 2, 1931, 219–241 zu lesen und darüber zu diskutieren. Mit den Brentanoanhängern, die dabei sind, kann man verhältnismäßig gut diskutieren. Sie haben zwar in Manchem andere Ansichten, sind ja aber auch Gegner der groben Metaphysik; und vor allem sind sie stets bemüht, ihre Ansichten und Fragen deutlich zu formulieren. Leider kann man das Letztere von Sergius HessenPHessen, Sergius, 1887–1950, russ. Philosoph (dem bekannten 🕮 russischen Philosophen und früheren Mitherausgeber des „Logos“ILogos, Zeitschrift für systematische Philosophie) nicht sagen. Er ist erstens ein schrecklicher Metaphysiker, zweitens in seinen eigenen Formulierungen zwar sehr wortreich, aber ganz unklar, drittens im Zuhören immerzu mißverstehend. Leider war er bisher der Hauptdiskutant. Ich werde aber von jetzt ab versuchen, die Diskussion hauptsächlich mit Dr. KatkovPKatkov, Georg, 1903–1985, tschech.-brit. Philosoph (auch einem Russen, Assistenten von KrausPKraus, Oskar, 1872–1942, tschech. Philosoph) zu führen.

Einen Doktoranden habe ich, einen ganz begabten Mann, der auch die logischen Dinge schon einigermaßen gut kennt. Er versucht einen Aufbau der Mathematik in besonderer Form mit einer Kritik des Existenzbegriffes, die teils von BrouwerPBrouwer, Luitzen E. J., 1881–1966, niederl. Mathematiker, teils von BrentanoPBrentano, Franz, 1838–1917, dt.-öst. Philosoph inspiriert ist.

Kürzlich bekam ich [einen] Korrekturabzug von SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick neuem Aufsatz „Realismus und Positivismus“BSchlick, Moritz!Positivismus und Realismus. In: Erkenntnis, 3 (1932). S.1-31, der in „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift III 1 erscheinen soll. Ich finde es sehr erfreulich, daß hier die Mißverständnisse unserer Auffassung, wie sie z. B. bei PlanckPPlanck, Max, 1858–1947, dt. Physiker, BavinkPBavink, Bernhard, 1879–1947, dt. Physiker und Philosoph und vielen andern vorliegen, gründlich aufgeklärt werden.

In „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift II 5-6 wird mein Aufsatz über „Physikalische Sprache“B1931@„Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft“, Erkenntnis 2, 1931, 423–465 erscheinen. Ich hatte ihn vor 1½ Jahren geschrieben und mußte ihn jetzt vollständig neu schreiben. Ich glaube, daß jetzt manches klarer geworden ist. Ich habe die Fragen im Dezember mit HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel nochmal gründlich durchgesprochen und mir selbst dabei die Sache erst richtig erklärt. HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel war in den Weihnachtsferien hier bei uns zu Besuch, das war sehr erfreulich. Dabei schneite eines Abends auch plötzlich RadakovicPRadakovic, Theodor, 1895–1938, öst. Mathematiker herein. Solche erfreulichen Überraschungen sind aber selten hier. Mit HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel habe ich hauptsächlich mein Ms „Metalogik“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 besprochen. Der erste Teil ist fertig, von der zweiten Hälfte ist ein erster Entwurf niedergeschrieben, der im Lauf der nächsten Monate fertig gemacht werden soll. Der erste Teil enthält hauptsächlich den formalen Aufbau, über den ich in Wien gesprochen habe, der zweite Teil behandelt in nicht formalisierter und daher leicht lesbarer Gestalt allerhand weitere Probleme‚die sich anknüpfen, und versucht schließlich zu zeigen, daß die sinnvollen philosophischen Probleme metalogische Fragen sind.

Ich freue mich sehr, daß WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann jetzt die Möglichkeit hat, in Sammlung an seinem BuchBWaismann, Friedrich!1976@Logik, Sprache, Philosophie, Stuttgart, 1976 zu arbeiten. Ich hoffe, daß ich das Buch bald in meinen Übungen oder hier im ZirkelIPrager Donnerstagszirkel von Carnap und Frank verwenden kann.

Auch jetzt noch verkehren wir fast ausschließlich mit FranksPFrank, Hania, 1894–1967, geb. Gerson, verh. mit Philipp FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank. Es ist nicht nur menschlich erfreulich, sondern auch eine große Hilfe in allen Schwierigkeiten mit den Behörden usw.

R.C.

Rundbrief, msl., 2 Seiten, MS 95/Carn-29; Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Prag XVII.  /  N. Motol, Pod Homolkou, msl. Prag, den 2. März 1932CD: hat das Format eines Rundbriefes? Vgl. die anderen Briefe von diesem Tag..


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.