\brief[Olga Neurath an Carnap, Wien, 12.~Januar 1932]% {Olga Neurath an Rudolf Carnap, 12. Januar 1932}{Januar 1932}\labelcn{1932-01-12-Neurath-Hahn-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Das war sehr nett, daß endlich einmal ein Lebenszeichen aus Prag gekommen ist, ich habe mich sehr gefreut. Ihr erster Brief an meinen Mann\inneurath{} wurde mir zwar nicht vorgelesen,\fnE{Vgl. oben, Brief Nr. \refcn{1931-10-30-Carnap-an-Neurath}.} dazu war der Herr Direktor\inneurath{} viel zu intensiv in seiner gewohnten Hetzjagd verstrickt, aber immerhin ein Referat wurde mir gnadenweise erstattet, aus dem das Wesentlichste -- wenigstens laut Versicherung des Referenten -- zu entnehmen war. Daß die Neurath\inneurath{}-Abende\II{} Ihnen ein wenig abgehen, ist wirklich sehr nett von Ihnen. Von uns kann ich mutatis mutandis ein Gleiches versichern. Seit Sie aus unsern Hallen geschieden sind, hat auch die Philosophie ausgesungen, es ist still geworden, denn Otto Neurath\inneurath{} hat derzeit keinen gleichgesinnten Gegner, mit dem er sich herumraufen könnte. Daß er außerdem sich meistens in Moskau aufhält, fällt dabei nicht so sehr ins Gewicht -- bitte lachen Sie nicht, ich meine das ganz im Ernst. Wären Sie noch da, so wären die 5 Tage, die er sich zwischen seiner ersten \& zweiten Moskauer Reise in Wien aufhielt, nicht so ganz unphilosophisch verlaufen. Immerhin kann ich ein Ereignis melden, das Sie vielleicht interessieren wird. Waismann\IN{\waismann}, den ich im brüderlichen Seminar\II{\hahnseminar} gelegentlich spreche,\fnE{Hans Hahn hielt (gemeinsam mit Karl Menger und Karl Mayrhofer) im Wintersemester 1931/32 ein Seminar unter dem Titel \glqq Mathematische Logik\grqq.} hat wieder eingehende Erörterungen mit Wittgenstein\IN{\wittgenstein} gepflogen, welcher ein paar Wochen hier verweilte. Dieser vom Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} \neueseite{}\zzz angeblich abgöttisch verehrte Philosoph will, wie es scheint, sich nunmehr auch der misera plebs verständlich machen. Es soll alles klar \& gemeinverständlich dargelegt werden, strittige Gebiete, wie z.\,B. die Frage der Anwendung der Sprache auf die Wirklichkeit, sollen ganz vermieden werden, ihm handelt es sich jetzt in erster Linie um das rein Grammatikalische, \& in diesem Sinne wünscht er Waismanns\IN{\waismann} Darlegungen eingeschränkt zu sehen, da dort natürlich kein Standpunkt vertreten sein soll, den er selbst schon aufgegeben hat. Ich glaube, mein Mann\inneurath{} wäre ganz zufrieden. Was allerdings dann noch übrig bleibt, wenn man alles, was bedenklich ist, ausmerzt, weiß ich nicht. Nun, wir werden das vielleicht wirklich bald sehen, denn Waismann\IN{\waismann} muß jetzt sein Buch\IW{\waismannbuch} schreiben. Mein Bruder\IN{\hahnhans} hat ihm von der wissenschaftlichen Nothilfe\II{\notgemeinschaft}, oder wie das heißen mag,\fnEE{Gemeint ist die \emph{Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft}.} glücklich ein Stipendium von 600 M. erwirkt, jetzt ist es für den großen Zauderer\IN{\waismann} Ehrensache geworden, sein Buch\IW{\waismannbuch} auch wirklich erscheinen zu lassen. Schade, daß Sie nicht da sind, das Seminar würde vielleicht auch Sie interessieren, Logistik, ich lerne eine Menge neuerer Abhandlungen kennen \& die Studenten stellen sich bei den Referaten über alles Erwarten geschickt an. Ich nehme an, daß auch Sie in Prag\II{\universitaetprag} bald einen beträchtlichen Hörerkreis haben werden, die Jugend scheint an dieser Art der Gehirnbetätigung Gefallen zu finden. Zum Doktoranden gratuliere ich, das ging rascher, als ich erwartet hatte. \neueseite Bei Gomperz\IN{\gomperz}\II{\gomperzzirkel} bin ich auch schon einmal gewesen.\fnEE{Im Salon bei Gomperz fand regelmäßig eines der zahlreichen Derivate des Wiener Kreises statt, der sogenannte Gomperz-Zirkel. Vgl. Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 500f.} Zilsel\IN{\zilsel} referierte über ein Werk\IW{} von Olschki\IN{\olschki}\fnA{\original{Oischki}}\fnEE{Olschki, \emph{Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur}.} -- ich glaube, so heißt der Mann -- der in mehr als 1000 Seiten nachweist, daß die modernen Naturwissenschaften ihren Ursprung nicht von den Universitäten, sondern von den wissenschaftlichen Außenseitern der Renaissance, id est Malern, Architekten, Wundärzten etc. sich herleiten. Es war ganz nett, wenn auch nicht sonderlich neu. Der Zirkel\II{\schlickzirkel} war dadurch etwas gestört, daß Prof. Kraft\IN{\kraftvictor} an Blinddarm- \& Nierenentzündung schwer erkrankt war. Er scheint aber wieder hergestellt, da er das nächste Referat halten wird -- etwas Psychoanalytisches, also wahrscheinlich auch amüsant! Auf Ihre Metalogik\IC{\logischesyntax} ist man schon sehr gespannt, Sie scheinen ja kolossal fleißig gewesen zu sein, das ist der bekannte Vorzug der kleinen Universitäten, besonders solange man noch fremd ist. Mein Mann\inneurath{} kommt jetzt natürlich zu gar nichts, er behauptet sogar, daß er in Moskau kaum zum Lesen kommt. Es scheint dort ein sehr intensiver Betrieb zu sein, tagsüber Arbeit, am Abend Theater oder Gesellschaft, denn es gibt dort massenhaft Bekannte. Die Briefe klingen begeistert, Frank\IN{\frankphilipp} hat Ihnen wohl schon berichtet, mit welchem Enthusiasmus mein Mann\inneurath{} über den großen Aufschwung in Rußland im Gegensatz zu dem Niedergang hier spricht. Seine Rückkehr ist leider noch nicht so nahe, als ich es wünschen würde. Erst hieß es \neueseite{}\zzz Mitte Jänner, jetzt heißt es schon Anfang Februar. Am \unsichera{28.1.}{Eventuell auch \original{20.1.}.} soll die erste kleine Ausstellung eröffnet werden, ich bin neugierig, ob sie dort \textkritik{alles zur}\fnA{\original{alle zu}} rechten Zeit fertig bringen, denn die Arbeit im Kleinen, Materialbeschaffung etc., soll sehr zeitraubend \& schwierig sein. Vielleicht kommt er auf der Rückreise durch Prag, dann kriegen Sie sicher einen begeisterten Bericht, ganz frisch vom Faß. Auch die Reidemeisterin\IN{\reidemeistermarie}, die seit Anfang Nov. in Moskau sitzt, soll sich sehr wohl fühlen. Freilich, die Leutchen wohnen im Grand Hotel \& haben viele Rubel auszugeben, da kann es einem sogar bei 25 Grad Kälte in Moskau gut gehen. Von Feigl\IN{\feigl} haben wir einmal ein längeres Schreiben gekriegt, wahrscheinlich dasselbe, das er allen Freunden geschickt hat. Der Wiener Kreis ist jetzt wirklich über die ganze Welt ausgebreitet, wenn auch etwas dünn gesät.\fnE{Feigl war (nach einem ersten USA-Aufenthalt 1930/31) ab Herbst 1931 an der University of Iowa tätig.} Die Randin\IN{\rand} treffe ich im Seminar bei Brüderchen\IN{\hahnhans}, sie steckt in keiner guten Haut, sollte Geld verdienen \& findet nichts, das alte Lied. Waismann\IN{\waismann} wird mit seinen 600 M. auch nicht sehr weit kommen, er wird damit eher fertü\fnEE{Veraltet umgangssprachlich für ,,fertig``.} sein als unsere Wirtschaft mit ihrer Krise. Natürlich war es gut, daß Sie die Erledigung Ihrer Angelegenheiten nicht in Wien abgewartet haben, so sind wenigstens Sie jetzt im sichern Hafen \& haben Aussicht, doch bald zu etwas Geld zu kommen. Ich denke, bis der rückständige Gehalt ausgezahlt ist, wird es zu einer Reise nach Wien langen, so etwa zu Ostern? Das wäre sehr nett. Für diesmal addio\fnA{Im Original \original{aidio}, eventuell auch \original{aldio}.}, Ina\IN{\ina}, die natürlich eine perfekte Maschinschreiberin ist, möge die vielen Fehler in dieser Epistel nicht allzu strenge verurteilen. Viele Grüße ihr\IN{\ina} \& Ihnen von Ihrer} \grussformel{O.\,N.} \ebericht{Brief, Dsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/825413}{RC 029-12-72}; Briefkopf: msl. \original{Wien 12.1.}, Signatur msl.}