\brief[Carnap und Ina Stöger an Olga Neurath, Prag, 23.~Dezember 1931]% {Rudolf Carnap und Ina Stöger an Olga Neurath, 23. Dezember 1931}{Dezember 1931}\labelcn{1931-12-23-Carnap_Ina-an-Neurath-Hahn} \anrede{Liebe Frau Neurath!} \haupttext{Wenn wir Ihnen so oft geschrieben hätten, wie wir uns das vornahmen, hätten Sie schon eine ganze Menge von Briefen von uns; und dann käme dieser nicht als beschämter erster. Aber so gehts nun mal immer bei uns: der Wille ist gut, aber die Zeit ist kurz. Immer muß man in die Stadt sausen oder die Metalogik\IC{\logischesyntax}\fnEE{,,Metalogik`` war der Arbeitstitel für Carnap, \textit{Logische Syntax der Sprache}. Vgl. TB~30.\,2.\,1931\diaryref{TB-30-2-1931}, sowie Awodey/Carus, ,,From Wittgenstein's Prison to the Boundless Ocean``.} lockt zu heftig. Jetzt sind die beiden ersten Teile der Metalogik\IC{\logischesyntax}, die Hauptsache, schon getippt. Sie sehen also, daß wir brav und fleißig, wenn auch brieffaul waren. Wir leben hier sehr gut und zufrieden. Unsere Wohnung ist schön und sonnig, und so weit draußen, daß sich nie professorale Besuche nach hier verirren. Für die grobe Arbeit haben wir eine Bedienerin, das Übrige und das Kochen besorgt Ina\IN{\ina}. Es gibt nur noch immer schrecklich viel Laufereien mit den Behörden wegen der Staatsbürgerschaftsformalitäten. Wenn wir in Wien gewartet hätten, bis sich diese Angelegenheit ohne unser Zutun erledigt, müßten wir wohl noch drei Jahre warten. Das hätte zwar den Vorteil, daß wir unsere Neurath\inneurath{}-Besuche\II{} weiter hätten, aber den Nachteil, daß es dann kein Geld gäbe. Es gibt zwar bis jetzt hier auch noch keines, aber doch die begründete Hoffnung, dereinst rückwirkend Gehalt zu bekommen. Immerhin müssen wir bei der jetzigen wirtschaftlichen Lage schon darüber sehr froh sein. Auf der Universität\II{\universitaetprag} gibt es bis jetzt nur wenig Hörer, da die Vorlesungsankündigung so spät erfolgte. Aber die wenigen interessieren sich für die Sache und es hat sich sogar schon ein Doktorand gemeldet.\fnSE{Karel Reach.}\fnE{Dabei handelt es sich um Karel Reach; siehe unten, Brief Nr.~\refcn{1932-03-02-Carnap-an-Schlick}, S.~\pagerefcn{1932-03-02-Carnap-an-Schlick-Reach}, textkritische Anm.\blockade{YYY-F Rerenz auf textkritische Fn einfügen: bislang wird falsche Ziffer ausgegeben}} Von den Fakultätskollegen verkehren wir nur mit Frank\IN{\frankphilipp} und Gicklhorn\IN{\gicklhorn} war auch schon mal bei uns. Der Verkehr mit Franks\IN{\frankphilippfrau}\IN{\frankphilipp} ist sehr erfreulich. Sie sind äußerst gut und wohlwollend zu uns und an Hanias\IN{\frankphilippfrau} Temperament haben wir beide großen Spaß. Nichtsdestoweniger denken wir mit Sehnsucht und schmerzlichem Vermissen an die schönen und anregenden Neuräthlichen\inneurath{} Abende\II{} zurück. Mit der Sprache geht es nicht ganz so schlimm, wie wir gefürchtet hatten. In den meisten Geschäften versteht und spricht man deutsch; aber es ist doch manchmal bei Behörden, Handwerkern und bei unsrer Bedienerin schwierig, sich verständlich zu machen. Einige Worte lernt man zwar bald; aber von da bis zum Verstehen ist noch ein sehr weiter Weg. Lebensmittel und Kleider sind hier billiger als in Wien. Und wenn man nicht der Sprache wegen auf die größeren Geschäfte angewiesen wäre, könnte man wahrscheinlich noch billiger leben, als wir es jetzt tun. Arbeitslöhne sind erstaunlich niedrig; unsre Bedienerin bekommt z.\,B. 200 Kč, das sind ca. 40 Schilling einschließlich Wäsche waschen pro Monat. Wir sind sehr viel zu Hause, können daher von den Schönheiten von Stadt und Umgebung nichts berichten. Wir wissen nur, daß es hier in unsrer nächsten Nähe schöne Skiübungswiesen gibt, auf denen sich bereits lebhafter Sportbetrieb zeigte, obwohl der Schnee äußerst spärlich lag. Wenns mal mehr gibt, wollen wir auch mitmachen. Hat Ihnen Neurath\inneurath{} unsern ausführlichen Brief vom Oktober vorgelesen? Es tut uns so leid, daß Sie nun so viel alleine sind und wir kämen so gerne, um Sie zu besuchen! \neueseite{}\zzz Bitte sagen Sie doch Neurath\inneurath{}, wenn er wieder in Wien ist, er soll uns schnell Nachricht geben: wir haben eine geschäftliche Bitte an ihn. Der kleine Hempel\IN{\hempel} will vom 30.~Dezember bis 5.~Jänner zu uns kommen; wir freuen uns schon beide auf ihn. Da wirds heftige Metalogikdiskussionen geben. Am Weihnachtsabend werden wir bei Franks\IN{\frankphilippfrau}\IN{\frankphilipp} sein und dort von deren schönem Lautsprecher Stimmung beziehen. Von Feigl\IN{\feigl} haben wir Nachricht. Er schreibt, daß es ihnen zwar gut geht, daß sie sich aber wohl für die Dauer drüben nicht wohlfühlen würden. Er hat Aussicht, daß sein Kontrakt in Iowa verlängert wird. Das Kasperle\IN{\kasper} ist sehr tüchtig, besorgt eine 3 Zimmerwohnung ganz alleine und gibt noch Deutschstunden daneben. Aber das werden sie ja wohl alles schon viel ausführlicher von Rose Rand\IN{\rand} wissen. Bitte grüßen Sie sie von uns! Aus Ersparungsgründen bleiben wir heuer zu Hause. So kommen die zahlreichen Münchner Kinder um den Anblick ihres Vaters und wir um den Genuß von Schnee und Sonne. Aber es muß jetzt dringend gespart werden. Wann und wo die ,,Metalogik``\IC{\logischesyntax} in Druck geht, ist noch unbestimmt. Im nächsten Erkenntnisheft\II{\erkenntnis} kommt die ,,Metaphysik``\IC{\ueberwindungdermetaphysik}\fnEE{Carnap, ,,Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache``.} zum Abdruck, im übernächsten, wenn Gott und Reichenbach\IN{\reichenbach} wollen, die ,,Physikalische Sprache``\IC{\physikalischesprache} und Neuraths\inneurath{} ,,Soziologie``\IW{\neurathsoziologie}.\fnE{Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``; Neurath, ,,Soziologie im Physikalismus``.} An Bücherneuheiten gibt es jetzt eine deutsche Übersetzung der beiden Einleitungen in die ,,Principia``\IW{\principiamathematica}; erschienen unter dem Titel ,,Einleitung in die mathematische Logik``\IW{} im Dreimaskenverlag\II{\dreimaskenverlag} (von Dr. Hans Mokre\IN{\mokre}).\fnEE{Whitehead/Russell, \textit{Einführung in die mathematische Logik}.} Dann eine kleine interessante Schrift von Petzäll\IN{\petzaell} ,,Logistischer Positivismus``\IW{}; Waismann\IN{\waismann} hat sie wahrscheinlich bekommen; wenn Sie sie hören möchten,\fnEE{Die erblindete Olga Neurath war auf Vorlesen angewiesen.} kann Frl. Rand\IN{\rand} sie wohl dort bekommen. Von Scholz\IN{\scholzheinrich} erschien eine ,,Geschichte der Logik``\IW{}, die teilweise ganz nett ist; er streicht mit mehr Begeisterung als Sachverständnis die Logistik sehr heraus. \textkritik{Beiliegend einen Zeitungsartikel ,,Schöpferische und ordnende Philosophie``\IW{}.\fnEE{Weltsch, ,,Schöpfende und ordnende Philosophie``.}}\fnA{Ksl. Ersetzung von \original{Hat Ihnen Neurath den Zeitungsartikel vorgelesen, den wir ihm geschickt haben ,,Schöpferische und ordnende Philosophie``?}} Es ist darin so schön gezeigt, daß Carnap\incarnap{} die Heideggerschen\IN{\heidegger} Schöpfungen ordnen soll. Wo Sie so viel allein sind, sollten Sie sich unbedingt von Neurath\inneurath{} einen guten Fernempfänger mit Lautsprecher schenken lassen. Aber nehmen Sie einen guten, Telefunken oder Philips, mit dem wirklich die europäischen Sender gut zu hören und zu trennen sind. Wir hatten auch mal im Herbst derartige Pläne, sie sind aber ins allgemeine Sparwasser gefallen. Seien Sie sehr, sehr herzlich gegrüßt} \grussformel{von\\Carnap und Ina}\Apagebreak \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828778}{RC 029-20-04}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.~/ N.~Motol, Pod Homolkou}, msl. \original{Prag, den 23.~Dezember 1931}; Signatur msl.}