\brief{Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 7. Dezember 1931}{Dezember 1931} %Prag, den 7. Dezember 1931. \anrede{Lieber Schlick!} \haupttext{Ich danke Dir für Deinen ausführlichen Brief vom 19.\,September. Ich habe mich sehr gefreut, zu hören, daß es Dir so gut geht. Und nun muß ich mich auch endlich aus meiner Faulheit aufschwingen, um Dir zu antworten und von Prag zu berichten. Im August bekam ich die Nachricht, daß meine Ernennung am 30.\,Juni erfolgt ist. Damit sind aber nicht etwa alle Formalitäten erledigt. Bis heute warte ich täglich darauf, daß die Ernennung rechtskräftig wird, was erst nach Erlangung der Staatsbürgerschaft geschehen kann. Und ich muß noch immer sehr viel Zeit damit verlieren, bei den verschiedenen Behörden wegen dieser Sache herumzulaufen. Und dabei halte ich schon seit 20.\,Oktober meine Vorlesungen. Als mir der Dekan\IN{\knoll} im September schrieb, ich könnte im Oktober mit Vorlesungen anfangen, bin ich sofort mit Ina\IN{\ina} hergefahren und wir haben nach eifrigem Suchen eine schöne Wohnung gefunden; Anfang Oktober sind wir eingezogen. Die Wohnung liegt ebensoweit draußen wie in Wien. Die drei Zimmer gehen nach Süden und haben einen sehr schönen Ausblick auf die hügelige Landschaft. Schönes, gekacheltes Badezimmer, leider keine Zentralheizung. Auch kein Gas, weil die Straße noch nicht fertig ist. Ina\IN{\ina} kocht alles elektrisch, wir essen täglich zu Hause. Die Wohnung ist viel schöner als die in Wien; sie kostet nur 160 Schilling monatlich. Ich lese 3 Stunden Naturphilosophie (unter eifriger Benützung Deiner Schrift) und 2 Stunden Grundlagen der Arithmetik; hierzu 2 Stunden Übungen. Nur wenig Hörer, weil zu spät angekündigt; aber darunter einige intelligente Leute, die sich auch aktiv beteiligen. Und Ina\IN{\ina} macht alles eifrig mit. Einstweilen bin ich nur ,,Supplent`` mit geringeren Bezügen (von denen ich aber auch bis heute noch nichts bekommen habe). Ich bin aber doch froh, daß ich diese Professur bekommen habe, denn in Deutschland wird die Wirtschaftskrise ja immer schlimmer. Nach Bonn\II{\universitaetbonn} ist übrigens Oskar Becker\IN{\beckeroskar} berufen worden. Von Amsterdam habe ich nichts mehr gehört, sodaß wohl kaum mehr damit zu rechnen ist. Vor Beginn meiner Vorlesungen habe ich eine Antrittsvorlesung ,,Die Aufgabe der philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaften``\IC{\antrittsvorlesungprag} gehalten, die gut besucht war. Ebenso kürzlich ein Vortrag in der Kant-Gesellschaft\II{\kantgesellschaftprag} ,,Die Überwindung der Mataphysik``\IC{\ueberwindungbruenn} mit heftiger 2stündiger Diskussion. Der Hauptgegner war Sergius Hessen\IN{\hessensergius}, ferner Lossky\IN{\lossky} u.\,A. Von den Disskussionsrednern war Kraus\IN{\krausoskar} noch der Verständigste! \neueseite{} Von meiner ,,Metalogik``\IC{\logischesyntax} ist der Hauptteil fertig. Ina\IN{\ina} hat ihn mit den vielen Formeln unter vielem Stöhnen fast fertig getippt, ca 160 Schreibmaschinenseiten. (Ich fürchte, der Setzer wird auch sehr stö[h]nen, aber die Formelzeichen sind doch viel einfacher als in der ,,Logistik``). Vielleicht werde ich mit Meiner\II{\meinerverlag} verhandeln, ob es als Ergänzungsheft der ,,Erkenntnis``\II{\erkenntnis} erscheinen kann. Millikan\IN{\millikan} hat hier einen Vortrag\IW{} gehalten. Nachher habe ich ihn auch flüchtig kennengelernt und Grüße an Dich aufgetragen, die er aber sicher vergessen wird. Er berichtete zu Beginn des Vortrags über die neue Oberländer-Stiftung\II{\oberleander}, in deren Auftrag er alle deutschen Universitäten besucht. Diese Stiftung\II{\oberleander} wolle die Verbindung zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Volk fördern; wodurch, sagte er nicht. Falls Du mit ihm sprichst und erfährst, daß die Stiftung\II{\oberleander} auch wissenschaftliche Einladungen nach Amerika macht, könntest Du vielleicht Waismann\IN{\waismann} und mich empfehlen? Waismann\IN{\waismann} scheint es jetzt wirtschaftlich recht schlecht zu gehen; er hat sich vor einiger Zeit an Frank\IN{\frankphilipp} gewandt damit dieser ein Gesuch bei der österreichischen Wirtschaftshilfe befürwortet; und ich habe dann auch dorthin eine Empfehlung für Waismann\IN{\waismann} geschrieben. Reichenbach\IN{\reichenbach} schrieb mir, daß er Deinen Aufsatz\IW{\schlickpositivismus}\fnE{M. Schlick: Positivismus und Realismus. -- In: Erkenntnis, 3 (1932). -- S. 1 -- 31.} sofort in Druck gegeben hat. So werde ich wohl bald einen Korrekturabzug bekommen. Ich finde es sehr erfreulich, daß Du den Physikern entgegnet hast. Die Korrektur der Rezension\IW{} über Weinberg\IN{} habe ich für Dich gelesen. Wirst Du die englische Erkenntnislehre\IW{} nachher für die Sammlung übersetzen? Oder ist das ein größeres Buch? Die deutsche Übersetzung (von Mokre\IN{\mokre})\IW{} der ersten und zweiten Einleitung der Principia Mathematica\IW{\principiamathematica} ist soeben erschienen. Ferner von Scholz\IN{\scholzheinrich} eine kleine ,,Geschichte der Logik``\IW{}; die hat er Dir wohl geschickt. Maja\IN{\maja} schrieb mir vor einiger Zeit, daß Moro\IN{\moro} in Europa sei, leider habe ich ihn aber nicht gesehen, Weihnachten fahre ich wahrscheinlich aus Ersparungsgründen nicht fort. In den Ferien werde ich dann auch wieder mehr zur Arbeit kommen. Wie haben uns hier allmählich gut eingelebt und führen ein vergnügliches Leben zusammen; von Menschen sehen wir außeramtlich fast nur Franks\IN{\frankphilippfrau} \IN{\frankphilipp}. Ich wünsche Dir und Deiner Familie\IN{\schlickfrau} \IN{\schlickalbert} \IN{\schlickbarbara} ein frohes Weihnachtsfest und weiter einen schönen Winter in dem guten Klima. Mit herzlichen Grüßen} \grussformel{Dein\\ Carnap} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870831}{MS 95/Carn-28 (Dsl. RC 029-29-15)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag XVII. \,/\, N. Motol, Pod Homolkou}, msl. \original{Prag, den 7.\,Dezember 1931}.}