Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 7. Dezember 1931 Dezember 1931

Lieber Schlick!

Ich danke Dir für Deinen ausführlichen Brief vom 19. September. Ich habe mich sehr gefreut, zu hören, daß es Dir so gut geht. Und nun muß ich mich auch endlich aus meiner Faulheit aufschwingen, um Dir zu antworten und von Prag zu berichten.

Im August bekam ich die Nachricht, daß meine Ernennung am 30. Juni erfolgt ist. Damit sind aber nicht etwa alle Formalitäten erledigt. Bis heute warte ich täglich darauf, daß die Ernennung rechtskräftig wird, was erst nach Erlangung der Staatsbürgerschaft geschehen kann. Und ich muß noch immer sehr viel Zeit damit verlieren, bei den verschiedenen Behörden wegen dieser Sache herumzulaufen. Und dabei halte ich schon seit 20. Oktober meine Vorlesungen. Als mir der DekanPKnoll, Fritz, 1883–1981, öst. Botaniker im September schrieb, ich könnte im Oktober mit Vorlesungen anfangen, bin ich sofort mit InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap hergefahren und wir haben nach eifrigem Suchen eine schöne Wohnung gefunden; Anfang Oktober sind wir eingezogen. Die Wohnung liegt ebensoweit draußen wie in Wien. Die drei Zimmer gehen nach Süden und haben einen sehr schönen Ausblick auf die hügelige Landschaft. Schönes, gekacheltes Badezimmer, leider keine Zentralheizung. Auch kein Gas, weil die Straße noch nicht fertig ist. InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap kocht alles elektrisch, wir essen täglich zu Hause. Die Wohnung ist viel schöner als die in Wien; sie kostet nur 160 Schilling monatlich.

Ich lese 3 Stunden Naturphilosophie (unter eifriger Benützung Deiner Schrift) und 2 Stunden Grundlagen der Arithmetik; hierzu 2 Stunden Übungen. Nur wenig Hörer, weil zu spät angekündigt; aber darunter einige intelligente Leute, die sich auch aktiv beteiligen. Und InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap macht alles eifrig mit. Einstweilen bin ich nur „Supplent“ mit geringeren Bezügen (von denen ich aber auch bis heute noch nichts bekommen habe). Ich bin aber doch froh, daß ich diese Professur bekommen habe, denn in Deutschland wird die Wirtschaftskrise ja immer schlimmer. Nach BonnIUniversität Bonn ist übrigens Oskar BeckerPBecker, Oskar, 1889–1964, dt. Philosoph, Schüler von Edmund Husserl berufen worden. Von Amsterdam habe ich nichts mehr gehört, sodaß wohl kaum mehr damit zu rechnen ist.

Vor Beginn meiner Vorlesungen habe ich eine Antrittsvorlesung „Die Aufgabe der philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaften“B1931@„Die Aufgaben der philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaften“, Antrittsvorlesung am 19.10.1931 in Prag gehalten, die gut besucht war. Ebenso kürzlich ein Vortrag in der Kant-GesellschaftIKant-Gesellschaft, Prag „Die Überwindung der Mataphysik“B1932@„Die Überwindung der Metaphysik und das Weltbild der modernen Philosophie“, Vortrag am 10.12.1932 in der VHS in Brünn mit heftiger 2stündiger Diskussion. Der Hauptgegner war Sergius HessenPHessen, Sergius, 1887–1950, russ. Philosoph, ferner LosskyPLossky, Nikolai Onufrijewitsch, 1870-1965, russ. Philosoph u. A. Von den Disskussionsrednern war KrausPKraus, Oskar, 1872–1942, tschech. Philosoph noch der Verständigste! 🕮

Von meiner „Metalogik“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 ist der Hauptteil fertig. InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap hat ihn mit den vielen Formeln unter vielem Stöhnen fast fertig getippt, ca 160 Schreibmaschinenseiten. (Ich fürchte, der Setzer wird auch sehr stö[h]nen, aber die Formelzeichen sind doch viel einfacher als in der „Logistik“). Vielleicht werde ich mit MeinerIVerlag Meiner verhandeln, ob es als Ergänzungsheft der „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift erscheinen kann.

MillikanPMillikan, Robert Andrews, 1868–1953, am. Physiker hat hier einen VortragB gehalten. Nachher habe ich ihn auch flüchtig kennengelernt und Grüße an Dich aufgetragen, die er aber sicher vergessen wird. Er berichtete zu Beginn des Vortrags über die neue Oberländer-StiftungIOberländer-Stiftung, in deren Auftrag er alle deutschen Universitäten besucht. Diese StiftungIOberländer-Stiftung wolle die Verbindung zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Volk fördern; wodurch, sagte er nicht. Falls Du mit ihm sprichst und erfährst, daß die StiftungIOberländer-Stiftung auch wissenschaftliche Einladungen nach Amerika macht, könntest Du vielleicht WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann und mich empfehlen? WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann scheint es jetzt wirtschaftlich recht schlecht zu gehen; er hat sich vor einiger Zeit an FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank gewandt damit dieser ein Gesuch bei der österreichischen Wirtschaftshilfe befürwortet; und ich habe dann auch dorthin eine Empfehlung für WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann geschrieben.

ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach schrieb mir, daß er Deinen AufsatzBSchlick, Moritz!Positivismus und Realismus. In: Erkenntnis, 3 (1932). S.1-311M. Schlick: Positivismus und Realismus. – In: Erkenntnis, 3 (1932). – S. 1 – 31. sofort in Druck gegeben hat. So werde ich wohl bald einen Korrekturabzug bekommen. Ich finde es sehr erfreulich, daß Du den Physikern entgegnet hast. Die Korrektur der RezensionB über WeinbergP habe ich für Dich gelesen.

Wirst Du die englische ErkenntnislehreB nachher für die Sammlung übersetzen? Oder ist das ein größeres Buch? Die deutsche Übersetzung (von MokrePMokre, Hans, 1901–1981, öst.-am. Philosoph und Soziologe)B der ersten und zweiten Einleitung der Principia MathematicaBRussell, Bertrand, und Alfred North Whitehead!1910@Principia Mathematica, Cambridge UK, 1910–1913, 2. Aufl., 1925–1927 ist soeben erschienen. Ferner von ScholzPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph eine kleine „Geschichte der Logik“B; die hat er Dir wohl geschickt.

MajaPRosenberg, Maja, 1904–1969, russ.-israel. Pädagogin, Schülerin von Moritz Schlick, verh. mit Moro Bernstein schrieb mir vor einiger Zeit, daß MoroPBernstein, Moro, Lehrer, verh. mit Maja Rosenberg in Europa sei, leider habe ich ihn aber nicht gesehen‚

Weihnachten fahre ich wahrscheinlich aus Ersparungsgründen nicht fort. In den Ferien werde ich dann auch wieder mehr zur Arbeit kommen. Wie haben uns hier allmählich gut eingelebt und führen ein vergnügliches Leben zusammen; von Menschen sehen wir außeramtlich fast nur FranksPFrank, Hania, 1894–1967, geb. Gerson, verh. mit Philipp FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank.

Ich wünsche Dir und Deiner FamiliePSchlick, Blanche Guy, 1881–1964, geb. Hardy, verh. mit Moritz SchlickPSchlick, Albert, 1909–1999, Elektroingenieur, Sohn von Moritz SchlickPSchlick, Barbara, 1914–1988, verh. van de Velde, Tochter von Moritz Schlick ein frohes Weihnachtsfest und weiter einen schönen Winter in dem guten Klima.

Mit herzlichen Grüßen

Dein
Carnap

Brief, msl., 2 Seiten, MS 95/Carn-28 (Dsl. RC 029-29-15); Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Prag XVII.  /  N. Motol, Pod Homolkou, msl. Prag, den 7. Dezember 1931.


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