\brief[Carnap und Ina Stöger an Neurath, Prag, 30. Oktober 1931]% {Rudolf Carnap und Ina Stöger an Otto Neurath, 30. Oktober 1931}{Oktober 1931}\labelcn{1931-10-30-Carnap-an-Neurath} \anrede{Lieber Neurath!} \haupttext{Besten Dank für Brief und Buch\IW{}. Bitte schreib aber immer meine richtige Adresse. Das Buch\IW{} fand ich (trotz einschreiben) gelegentlich im Institut, den Brief vom 23. bekam ich am 29. hierher. Für Waismann\IN{\waismann} möchte ich sehr gern alles tun, was nur möglich ist. Hier in Prag erscheint es mir aber völlig aussichtslos; ich werde es mit Frank\IN{\frankphilipp} besprechen. Franks Assistentin\IN{} muß jeden Tag einen halben Tag in der Bibliothek sein und bekommt dafür monatlich 40 Schilling! Selbst wenn eine Anstellung mit winzigem Gehalt gelänge, würde es mindestens ein Jahr lang dauern. Außerdem müßte er erst die Staatsbürgerschaft erwerben. Ich selbst laufe wegen meiner Formalitäten noch endlos bei den Behörden herum; ich werde froh sein, wenn ich ab Dezember oder Januar Gehalt bekomme, bis dahin nur eine kleine Vertretungsgebühr. Wann mir die gezahlt wird, weiß ich auch noch nicht. Ich habe jetzt an Professor Radermacher\IN{\radermacher}, Wien, geschrieben; ich hörte von Frank\IN{\frankphilipp}, daß Waismann\IN{\waismann} (oder jemand für ihn) ein Gesuch an die Österreichische Wirtschaftshilfe\II{} gerichtet hat, um Bewilligung einer Unterstützung zum Schreiben seines Buches\IW{\waismannbuch}.\fnSE{\labelcn{1932-01-12-Neurath-Hahn-an-Carnap-Waismann}Seit 1929 immer wieder als Band 1 der \textit{Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung} angekündigt, erschien Waismanns im Wesentlichen 1939 fertiggestelltes Buch \emph{Logik, Sprache, Philosophie} erst posthum. Ursprünglich als Darstellung und Erläuterung des \textit{Tractatus} konzipiert, veränderte sich der Charakter des Buches im Verlauf der schwierigen Zusammenarbeit mit Wittgenstein erheblich. Zur Entstehungsgeschichte vgl. die Zusammenfassung in Friedl, ,,The Vienna Circle and Wittgenstein``, 281f., sowie das Nachwort zur posthumen Edition.} Ich vermute, daß Hahn\IN{\hahnhans} das Gesuch ebenfalls befürwortet hat, vielleicht sogar überhaupt angeregt hat. Sollte das aber nicht der Fall sein, so teile ihm die Sache mit. Wann macht Waismann\IN{\waismann} seinen Doktor? Falls mit dem \glqq Hoffnungsschimmer Holland\grqq\ gemeint ist, daß Menger\IN{\menger} W\editor{aismann}\IN{\waismann} als Assistent für Mathematik nach Amsterdam empfehlen will, will ich gern deswegen an Brouwer\IN{\brouwer} schreiben, falls das von Menger\IN{\menger} für zweckmäßig gehalten wird. Deinen Beitrag\IW{\neurathphysikalismus} im \glqq Kampf\II{\kampf}\grqq\fnEE{Neurath, \glqq Weltanschauung und Marxismus\grqq.} habe ich mit Vergnügen und voller Zustimmung gelesen. Die Verwandlung der Muskelgefühle in Musegefühle hat wohl der Setzer vorgenommen, dagegen dürfte an der Geschichte von dem Blinden, der taub ist, und dem Tauben, der blind ist, das bekannte Neurathsche\inneurath{} Tempo schuld sein. Jetzt wird erst Heft 4 der \glqq Erkenntnis\II{\erkenntnis}\grqq\ gedruckt. Unsere Aufsätze\IC{\physikalischesprache}\IW{\neurathsoziologie} erscheinen ja erst in Heft 6.\fnEE{Neurath, ,,Soziologie im Physikalismus``; Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``.} Beiliegend die von mir geschriebene Chronik\IC{}.\fnSE{Kurzberichte von Vorträgen über \glqq Probleme der Einheitswissenschaft\grqq, veranstaltet vom \textit{Verein Ernst Mach} gemeinsam mit dem \textit{Wiener Volksbildungsverein} im Februar/März 1931, \textit{Erkenntnis} 2, 1931, 310--312.}\fnE{Vgl. dazu oben, Brief Nr.~\refcn{1931-05-28-Neurath-an-Carnap}.} Ich hab sie schon zum Druck geschickt, da es höchst eilig war. Von Hahn\IN{\hahnhans} und Waismann\IN{\waismann} hatte ich nichts bekommen. Falls einer von Euch wünscht, daß ich bei der Korrektur (kleine!) Änderungen oder Ergänzungen vornehme, soll er mirs schreiben. \neueseite{} Zu Deiner Reise nach Moskau herzlichen Glückwunsch.\fnEE{Zu Neuraths Arbeit in Moskau siehe Köstenberger, ,,Otto Neuraths ,Wiener Methode` im Dienste der sowjetischen Propaganda``.} Erstens wegen des interessanten Moskau (wir beneiden Dich beide darum), zweitens weil dann hoffentlich wieder einige Deiner großzügigen Pläne ihrer Verwirklichung näherrücken, sodaß Deine Aktivität sich ungehemmt weiter entfalten kann. Wenn die Russen für ihre Encyklopädie einen Mitarbeiter für formale Logik brauchen, so empfiehl mich. Aber wahrscheinlich muß bei denen auch die formale Logik dialektisch gemacht werden. Wenn Du uns auf der Hin- oder Rückreise besuchen könntest, würden wir uns von Herzen freuen. Am 3. vermutlich ganzen Tag zu Hause, Mittwoch, d\editor{en} 4. \textonehalf{}\,4\,--\,5 im Naturwiss\editor{enschaflichen} Institut\II{\nawiprag}. In der Wohnung leider kein Telefon. Aber Taxis\fnA{\original{Taxi}} sind hier noch billiger als in Wien. Untenstehende Wegbeschreibung schneid ab und verwahre sie für Bedarfsfall (Kartothek unter C). Am 19. habe ich Antrittsvorlesung gehalten, dabei viele Bonzen samt Gattinnen. Von denen kannte eine aus der Schule her die Ina\IN{\ina}. Das war unser Debut. Im übrigen kommen wir fast nur mit Franks\IN{\frankphilipp}\IN{\frankphilippfrau}\fnA{Hsl. Vervollständigung von \original{Frank}.} zusammen; mit denen aber trotz der Entfernung häufig und sehr gern. Die Abende bei Neuraths\inneurath{}\IN{\neuratholga} werden dadurch freilich nicht ersetzt. Wir wissen nicht, ob Ina\IN{\ina} oder ich mehr um Euch trauert. Ina\IN{\ina} hat ihren Bericht\IW{} über meine Antrittsvorlesung mit Gicklhorns\IN{\gicklhorn} Hilfe beim Prager Tagblatt\II{\tagblattprag} angebracht.\fnEE{Ein kurzer Bericht über die am 19.~Oktober gehaltene Antrittsvorlesung (,,Die Aufgabe der philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaften``) ist enthalten in: \textit{Prager Tagblatt}, Nr.~245, 21.~Oktober 1930, 5.} Darauf hin haben sie mir ihren Redaktionsphilosophen\IN{\weltsch} zum Interview geschickt.\fnSE{Zu diesem Treffen mit Felix Weltsch vgl. TB~25.\,10.\,1931\diaryref{TB-25-10-1931}.}\fnE{Zu diesem Treffen mit Felix Weltsch vgl. TB~25.\,10.\,1931\diaryref{TB-25-10-1931}; für dessen Artikel siehe unten, Brief Nr.~\refcn{1931-12-23-Carnap_Ina-an-Neurath-Hahn}. Ein zusätzlicher Bericht im \textit{Prager Tagblatt} über Carnaps Antrittsvorlesung konnte nicht eruiert werden.} Am 20. habe ich mit den Vorlesungen begonnen, mit spärlichen Hörern. Wir grüßen Euch alle sehr herzlich!} \grussformel{Carnap und Ina} \cutcn{\briefanhang{Elektrische 9 oder 15 (beide über Wenzelsplatz) bis Endstation (Košíře). Dann Autobus (1 K) (5 Min.) bis Pod Homolkou. In dieser Siedlung das äußerst (westlichste) Haus (des Architekten Kučera), Hochparterre. Wenzelsplatz bis Haus ca. \textthreequarters{} Stunden. Taxi 4--5 Schilling. (\glqq 2Kc\grqq -Taxi nehmen!!)}} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/825209}{RC 029-13-02}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,N. Motol, Pod Homolkou}, msl. \original{Prag, den 30.~Oktober 1931}; am Briefende der gleiche Stempel; Signatur msl.}