es ist höchste Zeit, daß ich Dir etwas von mir erzähle. Ich bin ja jetzt bereits fünf Wochen hier und kann daher schon ein Urteil über die Dinge hier abgeben. Ich muß zuerst sagen, daß ich wirklich ganz außerordentlich zufrieden bin. Die Schönheit der Landschaft im allgemeinen, die herrliche Anlage der UniversitätIUniversity of California, Berkeley CA, die fabelhafte Bequemlichkeit des Lebens, unsere schöne Wohnung (wir haben vier Zimmer und ein wunderbares Bad in einem Hotel im Grünen, von den Fenstern sieht man durch hohe Mimosenbäume auf die Bay hinaus) – alles das ist der denkbar beste Hintergrund für Arbeit und Erholung. An der UniversitätIUniversity of California, Berkeley CA habe ich sehr wenig zu tun: nur drei Stunden Vorlesung und zwei Stunden Seminar, und zu beidem brauche ich mich nicht vorzubereiten. Ferner nichts von den Arbeiten, mit denen man in Wien so belastet ist: Sitzungen, Prüfungen, Dissertationen. Einladungen muß man freilich annehmen, manchmal auch Reden halten, aber es ist nicht so schlimm, da die Leute gewohnt sind, sehr früh nach Hause zu gehen. Die Kollegen sind wirklich alle ganz besonders nett, nett im besten Sinne. Es gibt auch recht intelligente Leute hier, z. B. meinen Assistenten, mit dem ich höchst zufrieden bin. Die Seminarteilnehmer (darunter die vier philosophischen Extraordinarien) sind interessiert, lernbegierig und auch nicht so mit Vorurteilen imprägniert wie meistens die deutschen Philosophen.
Meine eigenen Arbeiten machten während der ersten Wochen, die man zur Akklimatisation braucht, naturgemäß nur kleine Fortschritte, aber ich bin doch ganz zufrieden. Ich habe angefangen, das BuchB, das an die Stelle der Erkenntnislehre treten soll, auf englisch zu schreiben; ich halte das aus mehreren Gründen für vorteilhaft. Den hauptsächlich für die Physiker bestimmten Aufsatz über die „Realitäts“frageB habe ich in die Schreibmaschine kopiert und bin fast fertig damit. Vielleicht werde ich das MS EinsteinPEinstein, Albert, 1879–1955, dt.-am. Physiker, verh. mit Else Einstein schicken. Auch das lebensphilosophische BuchB kommt in dieser günstigen Atmosphäre weiter. Ich habe in einem der Universitätsgebäude ein Arbeitszimmer für mich, auch mit herrlicher Aussicht, mit Lift erreichbar, wo ich ganz ungestört bin. Der „Campus“, d. h. der Park, in dem die Universitätsgebäude verstreut liegen, ist von märchenhafter Herrlichkeit. Mächtige Eukalyptusbäume, Palmen, sonderbare Pflanzen und schöne Rasenflächen, auf denen man getrost gehen und liegen kann. Der Campus, wie die ganze Stadt, liegt auf Abhängen, die zu 500 m aufsteigen; die Gipfel der Berge sind aber noch viel höher. Die Sonne scheint hier lange nicht so viel wie in Stanford: an sehr vielen Tagen, besonders morgens, ist 🕮 der Himmel von einer dicken Nebelschicht bedeckt, die durch das Goldene Tor vom Ozean hereinkommt (Stanford war durch 800 m hohe Küstenberge vor dem Nebel geschützt). Die Folge davon ist, daß es niemals heiß wird und daß die Wintermonate nur ganz wenig kälter sind als die Sommermonate. Jetzt, September, ist übrigens hier die wärmste Zeit, weil die Nebel schon abnehmen, die Sonne aber noch sehr hoch steht. Der Oktober ist dann so warm wie der August. Ich verspreche mir viel von diesem Winter; Du weißt ja, wie ich vom Klima abhängig bin.
Bisher hatte ich nur meine KinderPSchlick, Albert, 1909–1999, Elektroingenieur, Sohn von Moritz SchlickPSchlick, Barbara, 1914–1988, verh. van de Velde, Tochter von Moritz Schlick bei mir; meine FrauPSchlick, Blanche Guy, 1881–1964, geb. Hardy, verh. mit Moritz Schlick hat diese Wochen in Massachusetts bei allerlei Freunden und Verwandten verbracht, wir erwarten sie aber übermorgen hier. Die KinderPSchlick, Albert, 1909–1999, Elektroingenieur, Sohn von Moritz SchlickPSchlick, Barbara, 1914–1988, verh. van de Velde, Tochter von Moritz Schlick haben eine großartige Zeit; gerade jetzt sind sie für einige Tage aufs Land gefahren (in meinem schönen Chrysler-Wagen), sie sind von einem Bekannten eingeladen, der in herrlicher Berggegend eine Ranch hat mit Jagd, Reitpferden, Tennisplatz, swimming pool usw. Hoffentlich werden die Kinder sich nicht zu schwer an unsere kümmerlichen europäischen Verhältnisse zurückgewöhnen, wenn wir wieder in Österreich sind. Ich selbst werde mich freuen, im Sommer wieder dort zu sein. Die Bergwälder Kärntens habe ich in diesem Jahre doch etwas vermißt und Deine Karte aus den Bergen (herzlichen Dank dafür!) mit einem kleinen bißchen Heimweh betrachtet. Wien wird mir im Winter auch etwas fehlen, und ebenso meine schönen Freundinnen dort (erwähne dies aber bitte niemand gegenüber, auch nicht in einem Briefe hierher!); sie haben mich wirklich sehr verwöhnt. Natürlich bin ich aber doch immer guter Laune hier, ich fühle mich auch recht wohl; die Nieren- und Blasengeschichte scheint überwunden zu sein.
ReichenbachsPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach Aufsatz über Kausalität in den NaturwissenschaftenB habe ich gestern gelesen. Er scheint mir ziemlich kümmerlich, sodaß ich keine Lust zu einer Antwort habe. Aber es sollte doch einmal jemand etwas über ReichenbachsPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach verdrehte Wahrscheinlichkeitsideen schreiben – oder hältst Du es nicht für wichtig genug?
Ich hoffe, daß Du einen sehr schönen Sommer verbracht und Dich gut erholt hast, sodaß Du Dein Amt in PragIDeutsche Universität Prag in der allerbesten Verfassung antreten wirst. Ich nehme an, daß die Formalitäten jetzt alle erledigt sind und hoffe bald sehr gute Nachrichten von Dir zu bekommen. Ich habe Dich nach Königsberg als Nachfolger von HeimsoethPHeimsoeth, Heinz, 1886-1975, dt. Philosoph aufs dringlichste empfohlen; die Aussichten sollen aber nicht groß sein.
Schreibe mir bald!! Grüße Frl. StoegerPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap herzlich. Mit den allerbesten Wünschen und Grüßen