\brief[Neurath an Carnap, Wien, 22.~Juli 1931]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 22. Juli 1931}{Juli 1931}\labelcn{1931-07-22-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Anbei ein Beitrag\IW{\neurathzuschrift} für die Erkenntnis\II{\erkenntnis}.\fnSE{Neurath, ,,Zuschrift an die Herausgeber. Bemerkungen zu Reichenbachs Buch: Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie`` (\href{https://doi.org/10.48666/823570}{RC 029-19-02}). Zur daraus resultierenden Auseinandersetzung -- Reichenbach drohte mit Auflösung der \textit{Erkenntnis}, falls Neurath auf einer Veröffentlichung bestehen sollte -- siehe Milkov, ,,Einleitung``, XVIIIf.}\fnE{Neurath, ,,Zuschrift an die Herausgeber. Bemerkungen zu Reichenbachs Buch: Ziele und Wege der heutigen Naturphilosophie`` (\href{https://doi.org/10.48666/823570}{RC 029-19-02}); von dieser ,,Zuschrift`` existiert auch eine zweite Fassung; siehe unten, Brief Nr.~\refcn{1931-07-30-Carnap-an-Neurath}.} Hast Du dies Buch\IW{\rbnaturphilosophie}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(\uline{Reichenbach}, \unsicher{für Erkenntnis})}}.} schon in der Hand gehabt? Man spürt förmlich, wie er um den heißen Brei der Soziologie herumgeht. Aber er wird das Buch für sehr mutig halten. So sind die Menschen. Walter\IN{\walterzuerich} weint, daß Du nicht da bist.\fnE{Gemeint ist Emil Jakob Walter.} Dafür wird ihm morgen Schlick\IN{\schlick} im Schwarzenberggarten serviert. Ich darf auch naschen. Schlick\IN{\schlick} forderte mich auf und blieb trotz Sträubens dabei. So daß weitere Weigerung bereits anmaßend gewesen wäre. Walter\IN{\walterzuerich} brav, aber nicht sehr differenziert und präzise. Noch jung und ein Chemiker. Dafür allerhand. Nett und sauber. Hoffentlich nicht zusehr Schweizer. Hat Reichenbach\IN{\reichenbach} schon geantwortet? Ich bin ja so neugierig, wie er diesmal sabotieren wird. Die Krise wäre eine soooo gute Ausrede. Wie trifft sie Dich. Was hörst Du aus Prag? Ich fahre also um den 20.~Aug. nach Amsterdam und arbeite feste an meinem Referat\IW{}.\fnE{Zu diesem Vortrag siehe unten, Brief Nr.~\refcn{1931-08-17-Neurath-an-Carnap}.} \glqq Wie sag ichs meinem Kinde?\grqq\fnEE{So der Titel eines 1923 in Wien produzierten Stummfilms aus dem Genre populärwissenschaftlicher Aufklärungsfilme.} Übrigens ist einer aus USSR da, Wissel\IN{\wissel} kommt, neben Filene\IN{\filene} usw. eine muntere Gesellschaft.\fnEE{Der Vortrag in Amsterdam ist publiziert als Neurath, ,,Das gegenwärtige Wachstum der Produktionskapazität der Welt``; zum Kongress siehe Neurath, ,,Der Weltwirtschaftskongreß in Amsterdam``. Das diesen Kongress veranstaltende \textit{International Industrial Relations Institute} (IRI) und dessen Leiterinnen Mary L. Fleddérus und Mary van Kleeck wurden in der Folge wichtige Kooperationspartner von Neurath.} Dann bin ich wahrscheinlich in Genf. Völkerbundligasommerschule\II{}. Rede über Weltwirtschaft und so Zeug\IW{}.%\fnEE{Völkerbundligasommerschule ???} Das Leben rauscht vorbei ohne ausreichende revolutionäre Entfaltung. Alles steht schief. So ist das Leben. Marxistisch muß mans begreifen und privat kann man sich darüber ärgern, so wie über die Tatsache, daß Carnap\incarnap{} nach Prag kommt, worüber man sich andererseits freuen muß. Grüß Ina\IN{\ina}. Wenn Du es über Dich brächtest, allein oder mit ihrer Hilfe einen sogenannten Brief zu verfassen, wäre es nett. Man ist Dir nämlich gut gesinnt. Wenn Du weißt, was das meint. Erzähl von Menschen und Dingen. Berichte über Zeitungs- und Zeitschriftenstimmen ad \glqq Wiener Kreis\grqq\II{\schlickzirkel}. Wir armen Hühner. Die kleinsten Verleger finden, daß sie die Metaphysik nicht über die Klinge springen lassen können. Von den großen zu schweigen, die von der Notgemeinschaft\II{\notgemeinschaft} subventioniert werden. Je schärfer die Krise, umso nötiger die Subvention, um so metaphysischer!!! Das ist Marxismus. Das Leben rauscht, das Wasser schwoll \ldots\fnEE{Vgl. die erste Verszeile von Goethes Gedicht ,,Der Fischer``: ,,Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll``.}10\,\% Bankdiskont. Lahusen\IN{\lahusen} verhaftet.\fnEE{Der Konkurs des von Georg Carl Lahusen geleiteten Konzerns bildete den unmittelbaren Anlass für die oben angesprochene \hbox{(Banken-)} Krise, in deren Verlauf es zu starken Einschränkungen im Zahlungsverkehr kam.} Getreide verbrannt. Arbeitslose hungern. Die Währung gerettet. Die Selbstmordziffer gestiegen. Es riecht nach Verwesung. Hitler\IN{\hitler} ist mit großem Stab und dem Stabschef Pabst\IN{\pabstwaldemar}\fnA{\original{Papst}} nach Berlin abgereist. Hugenberg\IN{\hugenberg} subventioniert angeblich seinen eignen Sturz. Wers glaubt wird selig. Lebe wohl! Bräune Dich! Liebe! Werde geliebt! Denke!} \grussformel{Dein\\Nth} \ebericht{Brief, msl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/825230}{RC 029-13-08}; Briefkopf: msl. \original{Wien. XII. Arndtstraße 1. Stiege 17.} und \original{22.~Juli 1931}.}