Otto Neurath an Rudolf Carnap, 28. Juni 1931 Juni 1931

UNTERLAGE FÜR DIE BESPRECHUNG: SCHLICK, HAHN, CARNAP, NEURATH
Anfang Juli, über „Rundschreiben Reichenbach“.aKsl. (D. h. geplante Aktion für Professoren).

Um meinen Bericht über die Besprechung mit ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach eindeutig festzuhalten, erstatte ich ihn schriftlich. Die Besprechung fand am 11. Juni bei ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach in Gegenwart von GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph und DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph statt. ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach äußerte den Wunsch, darüber unserem engeren Kreis zu berichten.

ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach vertrat grundsätzlich den Standpunkt, daß man im Interesse der Hochschultaktik in Äußerungen über den Katholizismus, überhaupt in Äußerungen, welche das Zentrum verstimmen könnten, vorsichtig sein solle. Er wies auf eine Reihe von Umständen hin, die seiner Ansicht nach es sehr wahrscheinlich machen, daß eine Förderung der wissenschaftlichen Weltauffassung am ehesten vom Zentrum zu erwarten sei, das gegen Kantianer und andere Philosophen eine alte Abneigung habe. Ein Zentrumsvertreter im UnterrichtsministeriumIUnterrichtsministerium Preußen stehe dem Berliner KreisIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin durchaus freundlich gegenüber, man könne überzeugte Katholiken unter den Physikern gewinnen. Hingegen falle der Wiener KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis, vor allem ich persönlich, dem Zentrum unliebsam auf. Wenn man auf Professuren Gewicht lege, müsse man vorsichtig sein, den Gegner nicht unnütz reizen. Man müsse nicht die Unwahrheit sagen, aber man könne schweigen. In diesem Zusammenhange wies er darauf hin, daß er eine Art DenkschriftB anregen wolle, gefertigt von namhaften Physikern, Mathematikern und Vertretern unserer Richtung, die den Zweck verfolge, beim UnterrichtsministeriumIUnterrichtsministerium Preußen vorstellig zu werden, damit bei Neubesetzungen Vertreter moderner Naturphilosophie neben den Vertretern der überkommenen philosophischen Richtungen zu Worte kommen. Eine solche Denkschrift müsse so gehalten sein, daß sie auch von Zentrumsleuten unterschrieben werden könne, auf deren Mitwirkung ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach aus taktischen Gründen besonderes Gewicht legt. 🕮

In der Aussprache wies ich auf die Gefährlichkeit dieser Taktik hin. Man könne nicht zeitweilig vorsichtig sein und dann erst Farbe bekennen. Denn dann sei man bereits vielzusehr mit dem Gegner verbunden, sei es durch Förderung junger Kräfte, die aus gleichen taktischen Erwägungen heraus ihrerseits an Neubesetzungen interessiert sind und so die bereits Gesicherten in ihrer Handlungsfreiheit begrenzen. Es sei geradezu ein Mittel des Erfolges, durch klare, aufrechte, entschlossene, wenn auch nicht verletztende Formulierungen die Jugend zum Teil zu gewinnen.

Auf ReichenbachsPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach Frage, ob ich es für wesentlich halte, daß in der „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift der Katholizismus und verwandte Strömungen angegriffen werden, meinte ich: Es wäre nicht eine Forderung, dies zu tun, aber eine grundsätzliche Forderung, daß, wenn es vorkomme, es nicht zu unterdrücken. GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph schien mehr ReichenbachsPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach Meinung zu haben, während DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph nach dieser Erklärung ausdrücklich sich auf meine Seite stellte, da der Kampf gegen Theologie und Metaphysik unvermeidlich sei, er vertritt auch im ganzen die Einheitswissenschaft wie wir.

Demgegenüber betonte ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach, wie auch schon in letzter Zeit mehrfach publizistisch, daß er auf die ausdrücklich festgelegte Namensformulierung „Naturphilosophie“Gewicht lege, die mit ihren Sätzen den Naturwissenschaften ebenso gegenüberstehe wie die Kulturphilosophie, die Philosophie der Geisteswissenschaften, den Geisteswissenschaften. Ohne eine nähere Inhaltsangabe zu formulieren, betonte Reichenbach die traditionelle Trennung, die ihm offenbar auch taktisch wichtig scheint.

Ich hob mit einiger Hartnäckigkeit hervor, daß die Abtrennung einer „Philosophie“mit besonderen Sätzen an sich Metaphysik bedeute, daß aber die Trennung in „Naturphilosophie“und „Kulturphilosophie“vollends den Metaphysikern freie Bahn gebe. Als ob nicht die allgemeinen Formulierungen einer „Natur🕮 philosophie“sich auf alle räumlich-zeitlichen Gegenstände bezögen. ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach nahm demgegenüber einen skeptischen Standpunkt ein, da nicht von vornherein klar sei, daß es sich überall um räumlich-zeitliche Ordnung handeln müsse. Wenn man die Naturphilosophie schon jetzt klar formulieren könne, werde das Gebiet der Geisteswissenschaften und der geisteswissenschaftlichen Philosophie vielleicht noch ein Jahrhundert ungeklärt bleiben. Dagegen opponierte ich, weil darin ein meiner Meinung nach aus taktischen Erwägungen erfließendes Zugeständnis an die theologischen und metaphysischen Gegner zu erblicken sei.bKsl. Reichenbach:. Die Naturphilosophie, welche es mit physikalischen Problemen im engeren Sinne zu tun habe, berühre durch ihre Ergebnisse gewissermaßen nicht die – berechtigten oder unberechtigten – Spekulationen im Bereich der Geisteswissenschaften. Eine Art Zweiteilung: den Vertretern des Empirismus die Naturphilosophie und die Naturwissenschaften, den Theologen und Metaphysikern zunächst ungestörter Betrieb der anderen Sphäre. Unter diesem Gesichtspunkt brachte ich auch meine Bedenken gegenüber der Denkschrift und der damit verbundenen Taktik vor. Diese Denkschrift werde möglicherweise den Grundgedanken der Einheitswissenschaft preisgeben, was meiner Ansicht nach sich immer wieder auswirken werde. Ich verwies darauf, wie bis jetzt schon in der „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift aus taktischen Gründen Unbedeutendes zugelassen werde, aus redaktionellen Gründen die Aufnahme soziologischer Arbeiten noch nicht angängig schien, während breite Publikationen weniger entschiedener Richtung Unterkunft fänden. Die Denkschrift könne ein weiterer Schritt auf diesem Wege sein, der weg von der Einheitswissenschaft führe und dem Zentrum und verwandten Menschen die Geisteswissenschaften als Sonderdomäne überlasse. ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach bestritt diese Konsequenz für ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift und DenkschriftB. 🕮

ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach legt Gewicht darauf, daß SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn u. a. diese DenkschriftB mitfertigen. Eine grundsätzliche Stellungnahme ist ihm erwünscht. Er meint, daß sie eine Form haben könne, daß einerseits Physiker, die ausgesprochene Zentrumsanhänger sind, sie unterzeichnen können, ebenso aber auch SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, der vorher verständigt würde, wer neben ihm unterzeichnen würde.

Es scheint mir angemessen, wenn man die Antwort nicht nur ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach, sondern auch DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph und GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph zukommen ließe, weshalb sie auch als Erwiderung auf diese Gesamtmitteilung abgefaßt werden könnte. Es handelt sich nicht um diese Denkschrift als Einzelerscheinung – die ist wohl vorsichtig formuliert auch von Vertretern der Wiener GruppeIVerein Ernst Mach vertretbar – sondern um das drum und dran. Es wäre in Ergänzung des letzten Schreibens an ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach1Möglicherweise gemeint: Rudolf Carnap an Hans Reichenbach, 4. Juni 1931, HR 013-41-54. wichtig, die Haltung der Wiener GruppeIVerein Ernst Mach zusammenfassend darzustellen, damit die Kooperation mit den BerlinernIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin nicht in allzunaher Zeit gefährdet wird. Ich persönlich glaube nicht, daß wir durch Zurückhaltung und Vorsicht Aufklärung verbreiten werden, noch auch, daß der Gegner so töricht sein werde, sich durch wesentliche Zugeständnisse zu schädigen, wohl aber wäre es möglich, daß das Zentrum einzelnen Vertretern des modernen Empirismus entgegenkommt, wenn es die Gewähr hat, was nicht ausdrückliche Vereinbarung bedeutet, daß sich sein Partner auf ein enges Gebiet beschränke und die Frage der Sinnleerheit der Theologie und Metaphysik nicht immer rückhaltlos, angewendet auf alle Wissensgebiete, erörtere.

ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach betont, daß sein Verhalten aus der reichsdeutschen Situation zu erklären sei. Dies trifft sicher zu. Auch andere Menschen, die uns nahestehen, sind taktisch der Ansicht ReichenbachsPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach, die sich durch faktische Vorgänge stützen läßt. Das bedeutet freilich nicht, daß wir mittun und sie unterstützen.

Brief bzw. Beilage zu nicht überliefertem Brief, Dsl., 4 Seiten, RC 029-13-10; Briefkopf: hsl. 28.6.31; das Schriftstück weist weder Anrede, Empfängernamen (vermutlich erging es an die vier in der erster Zeile Genannten), noch Grußformel oder Signatur auf. Wegen letzterem und weil Seite 4 bis zum Ende beschrieben ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Schriftstück nur unvollständig überliefert ist.


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