\brief{Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 28. Juni 1931}{Juni 1931} %Wien, den 28.Juni 1931. \anrede{Lieber Herr Professor!} \haupttext{Zu Ihrer ersten Aporie glaube ich, daß man das, was man vage etwa als anschauliche Gleichwertigkeit zweier nichtisomorpher Axiomensysteme bezeichnen kann, wohl formal definieren könnte. Ich habe mich aber noch nicht eingehend mit diesem Problem beschäftigt und kann Ihnen daher keine Lösung mitteilen. Zufällig habe ich aber vor kurzer Zeit von meinem aus Amerika zurückgekehrten Freund, Herbert Feigl\IN{\feigl}, gehört, daß Sheffer\IN{\sheffer} (Harvard Universität\II{\harvard}) sich mit dieser Frage beschäftigt habe und eine Lösung gefunden zu haben meint. Hoffen wir, daß er sie bald veröffentlicht. Ich stimme Ihnen vollständig bei, daß Russells\IN{\russell} empirisches Unendlichkeitsaxiom nicht in die Mathematik gehört. Daß R[ussell]\IN{\russell} es für nötig hielt, liegt daran, daß er nicht unterscheidet zwischen tautologischer und empirischer Äquivalenz. Wir wollen $f(x)$ und $g(x)$ tautol[ogisch] äquiv[alent] nennen, wenn die Formel $(x).f(x) \equiv g(x)$ eine Tautologie (logisch beweisbar) ist. Dagegen empirisch äquiv[alent], wenn jene Formel zwar wahr, aber keine Tautologie ist. (Beispiel: ,,Mensch`` und ,,federloser Zweifüßler``). Nur tautol[ogisch] äquiv[alente] Funktionen sind gleichbedeutend. Nun sagt Russell\IN{\russell}: Wenn es nur 100 Individuen gibt, so sind die Funktionen, (oder ,,Klassen``, was wir ja heute nur als eine andere Bezeichnungsweise ansehen) ,,101`` und ,,102`` beide leer, also äquivalent, also identisch: Die Funktionen ,,101`` und ,,102`` sind in diesem Fall zwar empirisch äquivalent, aber nicht tautol[ogisch] äquivalent. Wenn wir nun die arithmetische Gleichheit durch den metamathematischen Begriff der tautologischen Äquivalenz definieren, so bleibt $101\neq 102$ gültig, unabhängig von der empirischen Anzahl der Inividuen. Dadurch wird das Unendlichkeitsaxiom überflüssig. Die Metalogik ist doch analog der Metamathematik gemeint. Sie hat zu Objekten alle Formeln der Sprache: empirische, tautologische und arithmetische. Die Metamathematik ist dann der Teil der Metalogik, der sich auf die arithmetischen Formeln bezieht. Die Metalogik ist somit zunächst inhaltlich gemeint; ich habe aber versucht, sie vollständig zu formalisieren. Mit herzlichen Grüßen \blockade{ksl.}} \grussformel{Ihr\\ \blockade{ksl}} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/871260}{RC 102-72-15}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Wien XII/5 \,/\, Stauffergasse 4}, msl. \original{Wien, den 28.\,Juni 1931}.}