Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 28. Juni 1931 Juni 1931

Lieber Herr Professor!

Zu Ihrer ersten Aporie glaube ich, daß man das, was man vage etwa als anschauliche Gleichwertigkeit zweier nichtisomorpher Axiomensysteme bezeichnen kann, wohl formal definieren könnte. Ich habe mich aber noch nicht eingehend mit diesem Problem beschäftigt und kann Ihnen daher keine Lösung mitteilen. Zufällig habe ich aber vor kurzer Zeit von meinem aus Amerika zurückgekehrten Freund, Herbert FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl, gehört, daß ShefferPSheffer, Henry Maurice, 1882–1964, am. Philosoph (Harvard UniversitätIHarvard University, Cambridge MA) sich mit dieser Frage beschäftigt habe und eine Lösung gefunden zu haben meint. Hoffen wir, daß er sie bald veröffentlicht.

Ich stimme Ihnen vollständig bei, daß RussellsPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell empirisches Unendlichkeitsaxiom nicht in die Mathematik gehört. Daß R[ussell]PRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell es für nötig hielt, liegt daran, daß er nicht unterscheidet zwischen tautologischer und empirischer Äquivalenz. Wir wollen \(f(x)\) und \(g(x)\) tautol[ogisch] äquiv[alent] nennen, wenn die Formel \((x).f(x) \equiv g(x)\) eine Tautologie (logisch beweisbar) ist. Dagegen empirisch äquiv[alent], wenn jene Formel zwar wahr, aber keine Tautologie ist. (Beispiel: „Mensch“ und „federloser Zweifüßler“). Nur tautol[ogisch] äquiv[alente] Funktionen sind gleichbedeutend. Nun sagt RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell: Wenn es nur 100 Individuen gibt, so sind die Funktionen, (oder „Klassen“, was wir ja heute nur als eine andere Bezeichnungsweise ansehen) „101“ und „102“ beide leer, also äquivalent, also identisch: Die Funktionen „101“ und „102“ sind in diesem Fall zwar empirisch äquivalent, aber nicht tautol[ogisch] äquivalent. Wenn wir nun die arithmetische Gleichheit durch den metamathematischen Begriff der tautologischen Äquivalenz definieren, so bleibt \(101\neq 102\) gültig, unabhängig von der empirischen Anzahl der Inividuen. Dadurch wird das Unendlichkeitsaxiom überflüssig.

Die Metalogik ist doch analog der Metamathematik gemeint. Sie hat zu Objekten alle Formeln der Sprache: empirische, tautologische und arithmetische. Die Metamathematik ist dann der Teil der Metalogik, der sich auf die arithmetischen Formeln bezieht. Die Metalogik ist somit zunächst inhaltlich gemeint; ich habe aber versucht, sie vollständig zu formalisieren.

Mit herzlichen Grüßen ksl.

Ihr
ksl

Brief, msl. Dsl., 1 Seite, RC 102-72-15; Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Wien XII/5  /  Stauffergasse 4, msl. Wien, den 28. Juni 1931.


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