Heinrich Scholz an Rudolf Carnap, 13. Juni 1931 Juni 1931

Lieber Herr Carnap!

Herzlichen Dank für Ihren Brief. Über logistische Dinge muß man sich eigentlich unterhalten, da es sonst fast nicht möglich ist zu erzwingen, daß alles genau so aufgefaßt wird, wie es gemeint gewesen ist. Ich möchte also heute nur noch zwei Dinge hervorheben, die mir inzwischen aufgestoßen sind und so, daß sie mir unter den Nägeln brennen. Das erste ist die Aporie, die auf beiliegendem Zettel formuliert ist. Ich hatte sie, bis auf das Schlußstück, niedergeschrieben, als Herr BaerPBaer, Reinhold, 1902–1979, dt.-am Mathematiker, verh. mit Marianne Baer aus Halle in einem Brief über ganz andere Dinge mir beiläufig fast dasselbe schrieb. Das zweite ist der Empirismus, dem die Mathematik in der RussellschenPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Ausdeutung ausgeliefert wird. Nach dieser Ausdeutung ist also die Mathematik insofern eine empirische Wissenschaft, als die Voraussetzung, daß es unendlich viele natürliche Zahlen gibt, sobald sie für sich behauptet wird, nur dann wahr ist, wenn in der Welt, der wir angehören, unendlich viele Individuen existieren. Ich habe mir nun zwar manches Vorurteil abgewöhnt; aber ich muß Ihnen doch sagen, daß der Anstoß an dieser Stelle sehr groß für mich ist; denn ich kann nun nicht einmal mit Sicherheit behaupten, daß die 1 existiert, weil ich dazu wissen müßte, daß wenigstens eine Eigenschaft existiert mit der Eigenschaft, genau einem Individuum 🕮 zuzukommen.

Auf Ihre Metalogik bin ich nun erst recht sehr gespannt. Vorläufig sehe ich noch nicht klar, was Sie vorhaben; denn nach der Analogie mit der Metamathematik wäre an ein inhaltliches Denken zu denken, das die Axiome der Logik zum Gegenstand hat. Sie haben offenbar etwas ganz anderes im Sinn, und etwas, was deshalb für mich noch geheimnisvoll ist, weil Sie, um es machen zu können, zwischen Sätzen der Sprache und metalogischen Sätzen ausdrücklich unterscheiden müssen.

Der Ihrige

mit herzlichen Grüßen
Heinrich Scholz

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-72-14; Briefkopf: msl. Philosophisches Seminar B  /  der Universität Münster i. W.  /  Münster i. W., den 13. 6. 31.


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