\brief{Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 20. April 1931}{April 1931} %Wien, den 20. April 1931. \anrede{Sehr verehrter Herr Professor!} \haupttext{Auf Ihre Fragen will ich gern antworten, soweit es mir möglich ist. (1) \uline{Peano\IN{\peano}-System}. Der Grundbegriff ,,Vorgänger von`` kann innerhalb der Logistik definiert werden. Es ist die Relation N, Def. 21, 06. Die Definition kann (unter Vermeidung der für den Anfänger zuweilen Schwierigkeiten bietenden ,,Operation`` von \textsection{}\,17) auch so formuliert werden: N=\textsubscript{Df} $\hat{\mu} \hat{\nu} (\mu + 1 = \nu)$, wobei + durch \blockade{denke, das soll ausgestrichen sein. Oder doch symbol?} Def. 21,05 definiert ist. (2) Ich bin überzeugt, daß die ganze Mathematik (Arithmetik, Analysis, Algebra) auf die Theorie der natürlichen Zahlen, also auf das Peano\IN{\peano}-System zurückgeführt werden kann. Ich glaube, daß die heute noch bestehenden Schwierigkeiten, insbesondere für die Definition der reellen Zahlen, sich überwinden lassen. \uline{Nach} der Definition der reellen Zahlen treten übrigens, soviel ich sehe, keine Schwierigkeiten mehr auf. Soweit Kronecker nicht nur die Zurückführbarkeit der irrationalen Zahlen auf natürliche Zahlen forderte, sondern die irrationalen Zahlen überhaupt ausschalten wollte, halte ich, wie wohl jeder heute, seine Forderung für unberechtigt und unbegründet. (Vgl. Encykl. d. math. Wiss.\II{} I A 3, S.\,58). \neueseite{} (3) Das \uline{Unendlichkeits-Axiom} gehört zwar nicht zu den ,,unbedingten``, wohl aber zu dem ,,bedingten Existenzaxiomen.``\fnC{\blockade{ksl. Fußnote; wurde transkribiert} hsl. \original{Zusatz 7.5.\uline{32}. Nein, es ist doch unbedingt. (Wenigstens in Verbindung mit der übrigen Logistik!) Denn die Existenz von 1, also auch von 0, ist auch in der von Existenz Voraussetzungen freien Logistik beweisbar (da das auch für einen leeren Bereich gilt). Daraus folgt dann [nach?] dem Unendlichkeitsaxiom die Existenz jeder weiteren induktiven Kardinalzahlen: 1, 2, \ldots }.} Aus einem solchen Axiom (wie sie ja auch in der Mengenlehre und in der Geometrie vorkommen, z.\,B. Hilberts\IN{\hilbert} Verknüpfungsaxiome) kann, wie Sie richtig bemerken, ein Existenzsatz nur dann erschlossen werden, wenn mindestens ein unbedingtes Ex[istenz]-Axiom (z.\,B. Hilbert\IN{\hilbert} I 8) zu Hilfe genommen wird. Daß man in der üblichen Logistik von ,,alle`` auf ,,es gibt`` schließen kann, ist allerdings ein Schönheitsfehler. Im Grunde ist es aber eine Bequemlichkeitsfrage. Man kann den Fehler nämlich beheben, wenn man eine etwas kompliziertere Form der logistischen Grundsätze, und damit der Ableitungen auf den unteren Stufen, in Kauf nimmt. Die Allgemeingültigkeit einer Formal des Funktionenkalküls hängt im allgemeinen von der Anzahl der Elemente des Gesamtbereiches ab (Vgl. Hilbert\IN{\hilbert}, Logik\IW{\hilbertlogik}, S.\,79\,ff, 65\,ff). Man pflegt nun gewöhnlich die Logik so aufzubauen, daß alle beweisbaren Formeln in jedem nichtleeren Gesamtbereich gelten. (Dies ist gemeint, wenn Hilbert\IN{\hilbert}, nicht ganz korrekt, sagt: ,,in jedem Bereich``). Vermutlich hat sich diese Tradition deshalb herausgebildet, weil hierbei die Grundsätze einfacher werden, und weil man ja bei Anwendung im konkreten Fall immer mit nicht-leeren Bereichen zu tun hat. Sie haben aber recht, daß darin (wenigstens für den, der das Unendlichkeitsaxiom aus Wittgensteinschen\IN{\wittgenstein} oder ähnlichen Gründen ablehnt) eine Inkonsequenz steckt. \neueseite{} Um konsequent alle Existenzannahmen auszuschalten, kann man wie folgt vorgehn. Definiert man die Existenz durch Def. 6.01 so kann man das Hilbertsche\IN{\hilbert} Axiom (f) (S.\,53) entbehren, da es durch Wendung aus (e) hervorgeht. Anstatt (e) stellen wir nun das folgende schwächere Axiom auf: $(x)(F(x))\rightarrow [F(y) \vee (z) (G(z))]$ \blockade{horizontaler Abstand, hat mit hspace nicht funktioniert} (1) Aus (1) kann nicht mehr wie aus (e) abgeleitet werden: $(x)(F(x)) \rightarrow (\exists y)(F(y))$ \blockade{Formel korrekt?} \blockade{horizontale Abstand} (2) Wohl aber kann, wie erforderlich, aus $H(a)$ mit Hilfe von (1) $(\exists x)(H(x))$ abgeleitet werden; \textkritik{und aus $(x)(H(x))$ \blockade{Abstand} $H(a)$.}\fnA{Hsl.} (4) Gödels\IN{\goedel} Aufsatz ,,Über formal unentscheidbare Sätze\ldots``\IW{\goedelmetamathematik}, der Grund einer sehr scharfsinnig erdachten Methode zu sehr wichtigen Ergebnissen kommt, erscheint jetzt in den ,,Monatsheften [für Mathematik und Physik]``\II{\monatshefte}. Ich werde Gödel\IN{\goedel} bitten, Ihnen einen Sonderdruck zu übersenden. Die Ernennung in Prag\II{\universitaetprag} hat sich sehr verzögert, sie wird mir in jeder Woche für die nächste in Aussicht gestellt. Wenn sie jetzt nicht bald kommt, werde ich im Sommer noch hier lesen. Mit besten Grüßen} \grussformel{Ihr\\ \blockade{ksl.}} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/871241}{RC 102-72-12}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Wien XII/5 \,/\, Stauffergasse 4}, msl. \original{Wien, den 20.\,April 1931}.}