Heinrich Scholz an Rudolf Carnap, 16. April 1931 April 1931

Transkription

Lieber Herr Carnap!

Ich lese in diesem Sommer 4stündige über die Auffassung der Mathematik von LeibnizPLeibniz, Gottfried Wilhelm, 1646–1716, dt. Philosoph bis HilbertPHilbert, David, 1862–1943, dt. Mathematiker und bitte Sie herzlich, mir zu meiner persönlichen Orientierung folgende Fragen kurz zu beantworten:

(1) Mit den Hilfsmitteln Ihrer LogistikB1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 kann man von den drei Grundbegriffen des PeanoPPeano, Giuseppe, 1858–1932, ital. Mathematiker-Systems in seiner ursprünglichen Gestalt, die 1 und ihre natürliche Zahl mühelos logistisch symbolisieren. Wie steht es mit dem „Nachfolger von“? Ich fürchte zwar, daß für dessen Symbolisierung ein noch viel umständlicheres Rüstzeug erforderlich ist, möchte aber nichts behaupten, was ich nicht verantworten kann. Stutzig macht mich immerhin, daß Sie im Anhang auch für das vereinfachte System wenigstens noch Vg als Grundbegriff einführen.

(2) Wie steht es nun eigentlich mit dem PeanoPPeano, Giuseppe, 1858–1932, ital. Mathematiker-System? Kann man sagen, daß (nach Aufbau der reellen und komplexen Zahlen) unsere ganze heutige Mathematik auf diesem System aufgebaut werden kann, kann man also mit andern Worten auch heute noch mit KroneckerPKronecker, Leopold, 1823-1891, dt. Mathematiker eine mathematische Aussage als eine Aussage charakterisieren, die sich auf eine Behauptung über natürliche Zahlen reduzieren läßt, oder nicht? Ich fürchte freilich, daß ich mit dieser Frage noch etwas mehr von Ihnen verlange, als sie beantworten können.

(3) Ich sehe nicht ein, inwiefern das Unendlichkeits-Axiom, in der üblichen Anschreibung, ein Existenzaxiom ist; denn es behauptet nur, daß keine natürliche Zahl existiert, zu der nicht ein Nachfolger existiert. Zu einem Existenzaxiom wird es doch erst in der Verkettung mit dem Satz, daß wenigstens eine natürliche Zahl existiert. Und dieser Satz ist so lange ein Satz der Logistik, wie wir den mir längst schon suspekten Schluß von „alle“ auf „es gibt“ zulassen. Dann aber muß die Kritik des Unendlichkeits-Axioms sich nach meinem Urteil auf den Satz von der Existenz wenigstens einer natürlichen Zahl und dessen logistische Antezedentien konzentrieren, oder es gibt überhaupt kein Kriterium für die Zugehörigkeit einer Aussage zur Logik. Was sagen Sie dazu? 🕮

(4) Was ist mit Herrn GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker los? Ich höre zwar allerhand aufregende Dinge, kann aber nicht herausbekommen, worum es sich handelt.

Herr SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, den Sie herzlichst grüßen möchten, schreibt mir, daß Sie nach PragIDeutsche Universität Prag gehen. Ich wünsche aufrichtig alles Gute dazu.

Mit freundliche Grüßen

der Ihrige
Heinrich Scholz

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-72-11; Briefkopf: msl. Philosophisches Seminar B  /  der Universität Münster i. W.  /  Münster i. W., den 16. 4. 31.


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