Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, 9. April 1931 April 1931

Lieber Flitner!

ich freue mich, im Januar nach langer Zeit wieder von Euch zu hören. Nach DavosIDavoser Hochschulkurse konnte ich aber nicht kommen, wenn ich mich auch gefreut hätte, Euch wiederzusehn. Übrigens hätte ich mich unter den vielen Metaphysikern dort kaum wohlgefühlt. Früher einmal habe ich ja in DavosIDavoser Hochschulkurse versucht, mit ihnen zu diskutieren. Aber allmählich komme ich durch Erfahrung immer mehr zu der Einsicht, daß meine Freunde hier doch vielleicht nicht ganz Unrecht haben, wenn sie sagen, daß das Sprechen mit den Gegnern bloße Zeitvergeudung ist. Ich tue es ja immer noch oft, in dem sokratischen Irrwahn, ein Mensch müsse doch durch klare Verstandesgründe beeindruckt werden können. Wenn ich dann immer wieder die Erfahrung mache, daß die Metaphysiker dabei ausweichen oder in tönenden Phrasen daherreden, muß ich mir wieder klar machen, wie sehr alles tun der Menschen und so auch oder erst recht das Philosophieren, hauptsächlich durch Gefühle und unbewußte Tendenzen bestimmt wird. Lies mal den BeitragB von DietrichP im Februarheft der „Deutschen Rundschau“I! der scharf gegen uns und für HeideggerPHeidegger, Martin, 1889–1976, dt. Philosoph Stellung nimmt. Ich meine, jeder, dem Echtheit und Solidarität lieb sind, müßte, auch wenn er von den erörterten Fragen gar nichts versteht, sich durch diese hohle Sprache schon rein menschlich ab🕮gestoßen fühlen.

Du verstehst, daß ich betrübt bin, daß auch du geneigt bist, für die Metaphysiker und gegen uns Stellung zu nehmen. Ich muß es mir so erklären, daß irgendwelche Gefühlsbedürfnisse Dich dorthin treiben, daß der Verzicht auf liebgewordene und gefühlbehangene Vorstellungen Dir als zu schweres Opfer erscheint. Da aber in Dir neben dem Künstler, der Du hauptsächlich und auch als Pädagoge bist, doch auch noch ein Erkennenwollender steckt, so meine ich immer wieder, Du müßtest es auch mal fertig bringen, die Dinge nüchtern und klar anzuschauen, losgelöst von dem Gefühlsbehang. Aber vielleicht stecke ich da schon wieder im genannten Irrwahn.

Vielleicht wäre uns ein menschliches Fühlungnehmen möglich, unter Beiseitelassen der wissenschaftlichen Kämpfe. Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß diese Gegensätze nicht nur im Theoretischen liegen, sondern auf viele andere Lebensgebiete hinübergreifen. Die theoretische Frage: Metaphysik oder nicht, ist ja an sich selbst gar nicht so wichtig. Aber die Stellungnahme des Einzelnen in diesem Punkt ist ein aufschlußreiches Symptom. Und so wird bei einem Gegensatz hier auch die menschliche Verständigung erschwert. Dies ist aber nicht gemeint als Ablehnung Deiner Aufforderung, wieder Fühlung zu nehmen; ich möchte nur, daß wir uns nicht über die Schwierigkeiten täuschen.

Ja, ich gebe mit ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach die „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift heraus. Ich ließ Dir im September das erste Heft schicken.

Ich freue mich, daß es Euch und den KindernPFlitner, Andreas, 1922–2016, dt. Pädagoge, Sohn von Wilhelm und Elisabeth FlitnerPFlitner, Anne, 1919–2002, Tochter von Wilhelm und Elisabeth Flitner gut geht.

Dir u. LisiPFlitner, Elisabeth, 1894–1988, geb. Czapski, Lisi genannt, dt. Nationalökonomin, heiratete 1917 Wilhelm Flitner herzliche Grüße

Dein
C.

Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, RC 102-29-30; Briefkopf: msl. Wien, den 9. April 1931.


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