\brief{Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 19. Februar 1931}{Februar 1931} %Wien, am 19.Februar 1931. \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Gestern morgens habe ich, wie besprochen, von Herrn Broadwin\IN{\broadwin} Ihre beiden Ms.\IC{} \IC{} erhalten und sie sogleich mit größtem Interesse studiert. Ihre Auffassung ist darin mit so vollkommener Konsequenz und didaktisch so vorzüglich dargestellt, daß ich es auf das lebhafteste begrüßen würde, wenn sie recht bald erschienen und weiteste Verbreitung fänden; denn ich könnte mir keine geeignetere Plattform für die Austragung des in Frage kommenden Meinungsstreites denken. Daß ich in diesem Meinungsstreit, trotzdem ich mit Ihnen in der antimetaphysischen Geisteshaltung, bzw. in der Überzeugung, daß metaphysische ,,Sätze`` Scheinsätze sind, vollkommen übereinstimme, nur teilweise auf Ihrer Seite stehe, wissen Sie ja und ich möchte jetzt nur nochmals kurz präzisieren, worin -- meiner Auffassung nach -- der Kardinalpunkt unserer Differenzen liegt. Ich sehe ihn darin, daß Sie der philosophischen Methode der ,,Klärung der Gedanken``, oder wie ich statt dessen sagen möchte, der Verdeutlichungsthematik, trotzdem Sie als Erkenntniskritiker ständig mit ihr arbeiten, doch tiefst innerlich mißtrauen, weil Sie in ihr ein Einbruchsfeld für metaphysische Spekulation argwöhnen. Nun ist es freilich eine unbezweifelbare Tatsache, daß dogmengeschichtlich die Verdeutlichungsthematik fast durchwegs stark mit spekulativ-metaphysischen Ideen durchsetzt war, aber deswegen diese Thematik selbst negieren hieße das Kind mit dem Bade ausschütten oder -- unmetaphorisch gesprochen -- die Probleme mit den Scheinproblemen ausschalten. Damit sind wir bereits bei dem ersten prinzipiellen Punkt meiner Einwände angelangt. Ich halte die von Ihnen durchgeführte Ausschaltung von Scheinproblemen, insbesondere Ihre kritische Analyse des Realismusstreites, für eine sehr wichtige Leistung, die in gewisser Hinsicht endgültige Einsicht bringt; aber damit sind die Probleme, die ,,hinter`` diesen falschen Formulierungen stecken, keineswegs aus der Welt geschafft und das Verdienst Ihrer Analyse sehe ich gerade darin, daß Sie diese Probleme aus der spekulativen Schale \neueseite{} herauslöst und dadurch als das hervortreten läßt, was sie sind, als Probleme der \uline{Verdeutlichungsthematik}. So steht ,,hinter`` den dogmatischen Formulierungen der Realisten und Idealisten die Problematik des Zusammenhangs von Denkakt und Denkinhalt und damit die Aufgabe einer Klärung dessen, was man denn \uline{eigentlich} meint, wenn man von ,,Denken`` spricht. Man kann diese Aufgabe nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man seine Überlegungen bei der Sprache und ihrer Syntax ansetzt, sondern man kann sie hiedurch nur zurückschieben, denn die radikale Klärung dessen, was der Erkenntnistheoretiker unter Sprache zu verstehen hat, ist nur durch Analyse des Denkens möglich (bei Wittgenstein\IN{\wittgenstein} bricht diese Einsicht -- freilich nicht definitiv -- durch, wenn er Satz und Gedanken identifiziert.) Ich habe in meinen Bemerkungen zu Ihren beiden Ms.\IC{} \IC{} und zwar vor allem zum Ms. über die physikalische Sprache, welches die prinzipiellen Erörterungen in größerer Ausführlichkeit enthält, hauptsächlich Fragen gestellt; diese sollen aber in der Regel nicht bedeuten, daß ich Ihre Ausführungen nicht zu verstehen glaube, sondern sie sollen einen Hinweis auf m.\,E. übersehene bzw. nicht gebührend beachtete Probleme bilden. Wenn mir etwas mehr Zeit [zur]Verfügung gestanden wäre, so hätte ich einem größeren Teil dieser ,,Fragen`` auch ,,Antworten`` hinzugefügt; so muß ich mich damit begnügen, im Folgenden in aller Kürze meine Einwände gegen Ihren ,,methodischen Materialismus`` vorzubringen, dem ich die Auffassung entgegenstelle, daß das Fremdpsychische, d.\,h. dasjenige, was wir \uline{eigentlich} meinen, wenn wir von Fremdpsychischem sprechen, nur mit Hilfe des Eigenpsychischen bestimmt werden kann und daß letzteres nicht auf Physisches zurückführbar ist. Ich beginne mit einer ganz kurzen Darstellung meiner eigenen Auffassung, um dann eine Prinzipienkritik der Ihrigen anzuschließen. Gehen wir von irgendeiner Erfahrungsaussage über die Außenwelt, z.\,B. ,,Grün ist jetzt hier`` aus! In ihr wird behauptet, \neueseite{} daß eine bestimmte Qualität an einem bestimmten Orte zu einer bestimmten Zeit vorfindlich ist und die Analyse dieser Behauptung wird demgemäß in zwei Hauptteile zerfallen, nämlich erstens in die Kriterien, wonach sich die raum-zeitliche Lokalisierung bestimmt, und zweitens in die Kriterien, wonach sich das ,,Wesen`` von grün, d.\,h. das, was ich eigentlich meine, wenn ich von ,,grün`` spreche, bestimmt. Beginnen wir mit dem zweiten Punkt. Was ich unter ,,grün`` meine, ist offenbar: ,,so etwas (bzw. so etwas Ähnliches) wie ein bestimmtes, der Wahrnehmung zugängliches oder zugänglich gewesenes und in der Erinnerung bewahrtes Grün. Dies besagt in anderer Formulierung (die den etwa bestehenden Anschein einer petitio principii verschwinden läßt) folgendes: Wir können in einer Wahrnehmung, die uns eine Einheit des ,,jetzt -- hier -- so`` gibt, das So-Sein abstraktiv isolieren und erinnerungsmäßig retinieren; der wahrgenommene Einzelfall wird auf diese Weise zum Exemplar für das ,,Wesen`` (Sie würden sagen ,,die Klasse``) ähnlicher Fälle, wobei die okkasionellen Daten der Wahrnehmung, d.\,h. die Tatsache, daß jenes So-Sein gerade damals und dort in aktueller Wahrnehmung erfaßt worden ist, oder die Frage, wie oft es in aktueller Wahrnehmung erfaßt worden ist, nicht in die Betrachtung eingeht. An dieses So-Sein kann sich nun die Verdeutlichungsthematik knüpfen, die etwa festzustellen haben wird, wie viel Freiheitsgrade die fragliche Qualität besitzt. In seiner ,,Formalen und transzendentalen Logik``\IW{\husserllogik} hat Husserl\IN{\husserl} noch prägnanter als in seinen ,,Ideen`` diese Verdeutlichungsthematik analysiert und es kann hienach nicht mehr die Rede davon sein, daß er sie sich als erfahrungstranszendente, intuitive Schau denkt. Prinzipiell analoge Problemstellungen, nur in ihrer Eigenart noch nicht völlig klar erfaßt, finden sich auch bei Wittgenstein\IN{\wittgenstein} und wurden ja in unserem Kreise wiederholt diskutiert. Auf das Fremdpsychische angewendet, ergeben diese Überlegungen, daß wir sorgfältig die beiden Fragen ,,Was ist Fremd\neueseite{}psychisches?{}`` und ,,Unter welchen Umständen werden wir sagen, daß Fremdpsychisches bestimmter Art an einer bestimmten ,,Stelle der Welt`` vorliegt?{}`` zu trennen haben. Auf die erste Frage wird die Antwort lauten: Fremdpsychisches ist so etwas, wie Eigenpsychisches. Ganz analog wie die Antwort auf die Frage, ,,Was ist grün?{}`` gelautet hatte: ,,So etwas, wie dieses Grün.`` Charakteristisch für das Psychische ist aber, daß sein So-Sein nur am Eigenpsychischen erfaßt werden kann, daß es also nur je eine Möglichkeit (bzw. eine Ordnung von Möglichkeiten) der Exemplifizierung gibt. Aber in den Begriffen des Eigenpsychischen und des Fremdpsychischen ist bereits eine Lokalisierung enthalten. Die Isolierung des So-Seins im Rahmen der hier gekennzeichneten Problematik führt daher zum Begriff des Psychischen schlechthin, ganz analog, wie wir es in unserem obigen Beispiel mit ,,grün`` schlechthin und nicht mit eigengrün und fremdgrün zu tun hatten. Die von Ihnen gemachte Unterscheidung ist vielmehr nur für die zweite Frage, diejenige nach den Kriterien dafür, ob Psychisches an einer bestimmten Stelle der Welt als existent anzunehmen ist, von Bedeutung. Die Frage nach der Existenz von Fremdpsychischem nimmt daher folgende Form an: Gibt es Anzeichen dafür, daß an einer bestimmten Stelle der Welt, die nicht meiner Person zugehörig ist, Psychisches d.\,h., ,,so etwas wie Eigenpsychisches`` existiert? Und hieran knüpft sich die weitere Frage, ob diese Anzeichen durchaus in die Sphäre des Physischen fallen oder nicht. Hier müssen wir uns vor allem klar machen, daß die Kriterien für die Existenz keineswegs notwendig ein unmittelbares ,,percipi`` einschließen. Wir nehmen vielmehr dann etwas als existierend (wirklich) an einer bestimmten Stelle der Welt an, wenn diese Annahme in Übereinstimmung mit dem übrigen Zusammenhang der Erfahrung steht, (Vgl. Kant\IN{\kant}, Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft], 2. Postulat der empirischen Erkenntnis, Schlick\IN{\schlick}, Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre}), und zwar auch dann, -- wenn die direkte Perzeption nicht nur technisch, sondern prinzipiell unmöglich ist, wie dies etwa für alle Ereignisse, die vor meine Geburt fallen, gilt. Hier liegt kein prinzipiell verschiedener \neueseite{} Fall gegenüber der Existenz von Fremdpsychischem vor; der gegensätzliche Anschein entsteht für Sie nur dadurch, daß Sie von vornherein Eigenpsychisches und Fremdpsychisches als zwei verschiedene Sphären ansehen, während in Wahrheit nur die eine Sphäre des Psychischen vorliegt. Wir wissen also schon, was Fremdpsychisches ist -- nämlich Psychisches. Ist aber hiedurch die Frage, ob der Satz ,,Fremdpsychisches existiert an einer bestimmten personal-zeitlich determinierten Stelle der Welt`` sinnvoll ist, bereits positiv entschieden? Die Einsicht, daß der Sinn eines Satzes nichts anderes ist als die Methode seiner Verifizierung, scheint hier zunächst in Gegensatz zu unserer Behauptung zu stehen, daß Fremdpsychisches so etwas ist wie Eigenpsychisches, denn da wir Fremdpsychisches im Gegensatz zu Eigenpsychischem nicht unmittelbar erleben, sondern nur aus Anzeichen erschließen können, so scheint die Verifizierungsmethode und damit der Sinn von Eigenpsychischem und Fremdpsychischem zu differieren. Daß aber diese Komplikation nicht besteht, ergibt sich ohneweiters aus den eben gemachten Feststellungen. Wir dürfen nämlich gar nicht fragen ,,Existiert an einer bestimmten Stelle der Welt Fremdpsychisches (bestimmter Art)``, sondern wir müssen Fragen ,,Existiert dort Psychisches?{}`` Nun wird, wie schon bemerkt, Psychisches stets nur als je-Eigenpsychisches \uline{unmittelbar} erlebt, aber in diesem Erlebnis wird ,,ein für allemal`` erfaßt, \uline{was} Psychisches ist, und daher bedarf es zur Verifizierung, ob \uline{so etwas} an einer bestimmten Stelle der Welt ist, nicht mehr unmittelbarer Erfassung. Hat man nämlich das Netz empirischer Beziehungen, den Erfahrungszusammenhang, in den ein bestimmtes psychisches Datum eingebettet ist, durchschaut, so kann man induzieren, daß an einer bestimmten Stelle der Welt Psychisches ist (war, sein wird), prinzipiell nicht anders, als man induziert, daß an einer bestimmten Stelle grün ist (war, sein wird). Nun aber kommt ein zweiter entscheidender Punkt: wenn man gewisse physische Tatsachen, z.\,B. Körperbewegungen, als Symptom für Psychisches interpretiert und zwar derart, daß -- etwa wie beim \neueseite{} \blockade{ksl. Anmerkungen am Rand dieser Seite} Film -- die Interpretation eindeutig durch die Art der Bewegungen bestimmt wird, so besagt dies keineswegs, daß deswegen (auf Grund der Identität: Sinn = Verifizierungsmethode) das erschlossene Psychische gar nichts anderes ist, als der Inbegriff der Bewegungen, woraus wir es erschlossen haben. Vielmehr liegt hier nur jenes ,,abgekürzte Verfahren`` vor, das Sie selbst an einer Stelle Ihrer Arbeit über ,,Psychologie in physikalischer Sprache``\IC{\psychologiesprache} zutreffend gekennzeichnet haben. Jene Interpretation ist nämlich keineswegs allein durch die Bewegung bestimmt, sondern sie erfolgt mit Hilfe eines konstanten Erfahrungsschemas über empirische Beziehungen zwischen bestimmten Psychischen und bestimmten Physischen. Die letzte Quelle der in diesem Zuordnungsschema liegenden Erfahrung aber liegt \sout{letztlich} immer in ,,innerer Erfahrung``, d.\,h. in unmittelbarem Erleben von Psychischem (nicht anders wie die physikalische Bestimmung von \uline{grün} nur kraft ihres empirischen Zusammenhanges mit grün-Erlebnissen Bestimmung von \uline{grün} ist.) Hier liegt auch der richtige Kern der Analogieschlußtheorie des Verstehens. Ich fasse zusammen: 1.) Die Scheidung von Eigenpsychischem und Fremdpsychischem als zwei verschiedenen Sachsphären ist irrig, da der der Scheidung zugrundeliegende Unterschied nicht ein Artunterschied ist, sondern die ,,Lokalisierung``, das principium individuationis, betrifft. 2.) Das Kriterium der Existenz von Psychischem an einer bestimmten Stelle der Welt ist, wie das Kriterium für die Existenz überhaupt, ein Erfahrungszusammenhang, innerhalb dessen das betreffende Faktum seine bestimmte Stelle erhält. Dieser Erfahrungszusammenhang muß nicht so beschaffen sein, daß er die Möglichkeit unmittelbarer Erfassung durch mich als Erfahrungselement enthält; erforderlich ist nur, daß ein \uline{Faktum gleicher Art} \neueseite{} von mir unmittelbar erfaßt werden kann. In Ihrer Unterscheidung von hinreichenden und entbehrlichen Bestandteilen, worauf Sie Ihre Theorie über das Fremdpsychische in den ,,Scheinproblemen``\IC{\scheinprobleme} stützen, sehe ich eine interessante erkenntnispsychologische Scheidung von habitueller und aktueller Erfahrung, aber erkenntnistheoretische Bedeutsamkeit kann ich ihr nicht zuerkennen. Eine für Ihre Auffassung der Psychologie sehr wichtige Annahme möchte ich noch streifen. Es ist diejenige, daß man seine Erlebnisse unpersonal erlebt, daß man also bei adäquater Beschreibung seiner Erlebnisse nicht sagen dürfte ,,ich denke``, sondern sagen müsse ,,es denkt`` und nicht sagen dürfe ,,ich habe Zorn``, sondern sagen müsse ,,jetzt Zorn``. Meines Erachtens ergibt sich durch \uline{Besinnung} strikte das Gegenteil, aber die Konsequenz hieraus ist keineswegs eine in Gott ausmühende Metaphysik, wie es nach Schelers\IN{\scheler} ,,Ethik``\IW{} den Anschein haben könnte. Ihre Kritik des Verstehens ist zwar gegenüber oberflächlicher Lehren, die das Charakteristische des Verstehens in einer spezifischen Erkenntnisquelle der ,,Intuition`` sehen, im Recht, trifft aber m.\,E. nicht den Kern der Problematik. ,,Verstehen`` ist nämlich \sout{gar} nichts anderes als ,,durch Psychisches erklären`` und ist demgemäß \sout{mit dem} durch den -- von mir im Vorstehenden \sout{versuchten} erbrachten -- Nachweis des Erkennbarkeit von Psychischem \sout{schlechthin} selbst gerechtfertigt. Hoffentlich hat die Knappheit der obigen Ausführungen deren Verständnis nicht gar zu sehr erschwert. Auf tiefere Schichten der Problematik, die sich insbesondere im Zusammenhange damit ergeben, daß auch die physikalische Welt ,,Welt für jedermann`` ist, also Fremdpsychisches bereits voraussetzt, konnte ich nicht eingehen; (hiezu wäre Husserl\IN{\husserl}, ,,Formale und transzendentale Logik``\IW{\husserllogik} zu vergleichen), doch wird hiedurch an den hier in Betracht kommenden Ergebnissen nichts geändert. Auf unsere Differenzen bezüglich des Klassenbegriffes bin ich hier nicht eingegangen; da Sie in meinem Brief an Herrn Behmann\IN{\behmann} vom 16.\,November 1930, dessen Kopie Sie besitzen, hinreichend \neueseite{} präzisiert wurden. Ich würde es aber für richtig halten, daß wir mit unserer Diskussion gerade an diesem Punkte einsetzen, da mir hier der Weg zu gegenseitiger Übereinstimmung am weitesten vorgebahnt zu sein scheint. Ich freue mich \uline{herzlichst} auf unser Beisammensein und das Gleiche gilt von meiner Frau\IN{\kaufmannfrau}. Viele Grüße!} \grussformel{Ihr\\ Felix Kaufmann} \ebericht{Brief, msl., 8 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870216}{RC 028-26-04 (Dsl. FK 008095-008102)}; Briefkopf: gestempelt \original{Dr. Felix Kaufmann \,/\, Wien, XIX., Döblinger Hauptstraße 90}, msl. \original{Wien, am 19.\,Februar 1931}.}