\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Wien,} 28.~Juli 1930]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 28. Juli 1930}{Juli 1930} \anrede{VIEL GLÜCK FÜR PRAG!} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Du stellst Dir die Sache viel zu günstig vor. Ich war selbstverständlich von vornherein zu Änderungen in weitem Ausmaß bereit. Aber als Schlick\IN{\schlick} mit seinen Invectiven begann, daß es nicht auf Einzelnes ankomme, der ganze Aufbau, die ganze Stilisierung sei so, daß alles lächerlich wirke, trivial usw., da hörte natürlich alles auf. Auf meine zur Güte mahnende demokratische Bemerkung, daß Frank\IN{\frankphilipp} die Sache zweimal gelesen, meinte er eben, daß er empfindlicher sei usw. Sein ästhetisches Gewissen gestatte ihm nicht, das zu vertreten und derlei mehr. Es war nicht eine Verhandlung mit gemeinsamer Basis, sondern der Widerstand einer scharf pointierten Geschmackseinstellung gegenüber einer völlig anderen Grundhaltung. Es ist schrecklich lieb von Dir, daß Du so was bearbeiten wolltest. Kommt gar nicht in Frage. Auch Neider\IN{\neider} nicht. Was ich seriosieren\fnE{Dieses Kunstwort verwendet Neurath im Anschluss an das ebenfalls künstliche ,,seriosifizieren`` in Carnaps Vorgängerbrief.} will, kann ich selbst machen. Das ist kein Problem. Ich verfüge über die Technik der professoralsten Fassung, wenn das nötig wäre. Aber ich schreibe ja aus einer anderen inneren Haltung heraus. Sie ähnelt der Franks\IN{\frankphilipp} am meisten. Du kommst allmählig dorthin -- hoffentlich. Für mich steht die Sache so. Mit Schlick\IN{\schlick} verhandle ich nicht mehr. Nur mit Frank\IN{\frankphilipp}. Wie komme ich dazu, mir mitteilen zu lassen, daß er meine \glqq naiven\grqq\ Äußerungen im Zirkel\II{\schlickzirkel} ganz gerne angehört habe usw. usw. Es wird nun Frank\IN{\frankphilipp} a. darauf bestehen, daß die Sache erscheint, oder vielleicht sogar ultimativ sich verhalten, was ich \gesperrt{nicht} annehme, oder b. um des Friedens willen weitgehende\fnA{\original{weitgehnde}} Änderungen verlangen. Auf das gehe ich nicht ein, da gebe ich ihm lieber ein \glqq seriöses\grqq\ Manuskript, das von vornherein die Theorie der Soziologie entwickelt. Ich bin ja überzeugt, daß Sch\editor{lick}\IN{\schlick} neue Ausflüchte suchen wird. Aber: \neueseite{} Je früher er sich soziologisch ganz entlarvt, vielleicht umso besser. Ich bin ja ständig schwankend, wie weit man links stehende Bürgerliche heranziehen soll, so gut es geht, oder wie sehr man sie diskreditieren soll. Wenn sie selbst agressiv werden, ist wirklich nicht einzusehen, weshalb man all das platte, unzulängliche Zeug stillschweigend hinnehmen soll. Frank\IN{\frankphilipp} findet z.\,B. Sch\editor{licks}\IN{\schlick} ethische Arbeit\IW{\schlickethik} sehr sehr mäßig.\fnE{Schlick, \textit{Fragen der Ethik}; als Mitherausgeber der \textit{Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung} kannte Frank wohl bereits die Manuskriptfassung dieses im Herbst 1930 erschienenen Werkes.} Daß aber Sch\editor{lick}\IN{\schlick} drucken kann ohne Einschränkung, was er will, sicherlich der Ausfluß seiner höchst persönlichen Lebensstimmung, ich aber nicht, geht natürlich nicht. Du weißt, daß ich Sch\editor{lick}s\IN{\schlick} ethisches Zeug\IW{\schlickethik} anzugreifen unterlassen habe. Daß Sch\editor{lick}\IN{\schlick} nichts Positives an meiner Arbeit\IW{\neurathwgb} fand, worauf er hinzuweisen für gut fand, wird vielleicht auch Dir und anderen die Augen darüber öffnen, was ein richtiger Burjui\fnEE{Aus dem Russischen entlehnt für ,,Bourgeois``.} ist. Ich erwarte von keinem im Zirkel\II{\schlickzirkel}, daß er für mich und gegen Sch\editor{lick}\IN{\schlick} Partei ergreift, dazu seid Ihr alle viel zu sehr mit ihm verbunden. Der Einzige, der mir hier wirksam raten kann, ist eben Frank\IN{\frankphilipp}. Also abwarten und Tee\fnA{\original{Thee}} trinken. Ich bin selbstverständlich dafür, es nicht zu einem Krach kommen zu lassen. Aber ich habe den Eindruck, daß Schlick\IN{\schlick} absolut entschlossen ist, nicht nachzugeben. Vielleicht findet sich der Ausweg, daß Frank\IN{\frankphilipp} zu meinem Buch\IW{\neurathwgb} eine Vorrede allein zeichnet, so wie Schlick\IN{\schlick} die zu Waismann\IN{\waismann}. Wenn wahre Solidarität fehlt, muß das irgendwann herauskommen. Sobald Ichheiserbesprechung\IW{} erscheint, bekommst Du sie. Grüß Maue\IN{\maue}. Laßt es Euch gut gehn. Die Sache ist eklig. Man zögert lange, bis man sich entschließt, jemanden einfach als Gegner\fnA{\original{Gegener}} anzusehen, bei dem einen nichts mehr ekelt. Kommt bald! So scheint es mir. Gute Grüße} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/825008}{RC 029-14-10}; Briefkopf: hsl. \original{28.~Juli}.}