\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Wien,} 22.~Juli 1930]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 22. Juli 1930}{Juli 1930}\labelcn{1930-07-22-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Habe Korrektur weitergegeben. Mit allem einverstanden, wie gewöhnlich. Mit Schlick\IN{\schlick} ging\fnA{\original{gieng}} es ganz scharf her. Er war von Anfang an entschlossen, sich nicht auf Modifikationen einzulassen. Mit seiner höheren ästhetischen Überzeugung sei ein Buch\IW{\neurathwgb} voll innerer Interjektionen nicht vereinbar. Mein Hinweis, daß Frank\IN{\frankphilipp} das Buch\IW{\neurathwgb} zweimal gelesen, kümmerte seine Überzeugung nicht, so ein Buch\IW{\neurathwgb} wirke lächerlich, und was man eben so sagt, wenn man völlig überzeugt ist, daß man hoch oben sitzt und mit niemandem gleich auf gleich sprechen muß. Ich wies darauf hin, daß in meinem Vertrag nicht stehe, daß die Herausgeber auch Zensoren wären. Ich habe ein Buch zu schreiben und ein Honorar zu bekommen. Er sagte, er werde dem Verlag\II{\springerverlag} schreiben, er könne die Publikation nicht verantworten. Da das sofort Prozeß, Krach über Krach bedeuten würde, sagte ich ihm, er solle erst Frank\IN{\frankphilipp} schreiben. Aber er meinte, Frank\IN{\frankphilipp} sei vielleicht nicht so empfindlich wie er usw. usw. Ich meinte, Ihr alle kennt das Buch\IW{\neurathwgb}, und wenn Ihr auch nicht alles billigt, so habe es Euch doch nicht gar so abgestoßen. Das existiert alles für ihn nicht. Nun meinte ich, eine Herausgeberschaft binde doch nicht gar sosehr. Wenn er die Herausgeberschaft so übertrieben streng nehme, hätte er das vorher mitteilen müssen, das könne kein Mitarbeiter erwarten. Und er habe alles getan, den Anschein zu erwecken, daß er eine nähere Kenntnis meiner Stellung zur Soziologie nicht wünsche. Ich hätte ihn mit großer Beharrlichkeit zu den Marxabenden eingeladen,\fnEE{Gemeint sind die Treffen, die laut TB von Februar bis Mai 1930 an Montag-Abenden in der Boltzmanngasse stattfanden und von Carnap einmal auch als ,,Neurath-Zirkel`` (TB~17.\,2.\,1930\diaryref{TB-17-2-1930}) bezeichnet werden; vgl. dazu Damböck, ,,Carnap's Noncognitivism. Paths and Influences``, Abschnitt 4.} viele Jahre seien wir nebeneinander, nie habe er mit mir ein Wort über Soziologie, über die Methode Bücher zu schreiben usw. gesprochen, was doch naheliegend wäre, wenn ihm daran liege. Er meinte, jeder müsse ein Buch seiner Überzeugung gemäß schreiben, er hätte eben eine theoretische Orientierung über soziologische Probleme erwartet. Ich meinte, wie leicht hätte ich das machen können. Er wieder meinte, er verstehe nicht, wie das möglich sei, wenn ich nun einmal so schreibe. Als ob ich nicht Theoretisches über Soziologie zu sagen hätte, es wäre eben ein anderes Buch, eines, das ich aus dem Handgelenk schreiben hätte können, während mir dies große Mühe machte, wie Du weißt. Aber jeder Appell an Solidarität, an Rücksichtnahme darauf, daß jeder \neueseite{}\zzz anders sei, scheiterte. So brüsk, so wegweisend hat mich nicht einmal mein Münchner Staatsanwalt behandelt,\fnE{Für Details zum Prozeß in München 1919 siehe Sandner, \textit{Otto Neurath}, S.\,132ff.} der freilich nie dazwischen fragte: Sie sind mir doch nicht bös, und das beherrschte Salonlächeln aufsetzte. Wenn wir nicht Antimetaphysik gemeinsam zu vertreten hätten, mich würde es freuen, all das Pathos, das Schlick\IN{\schlick} benützt, aufzuzeigen, seine Art über Geschichte, über Ethik zu reden. Daß man derlei schont, ist selbstverständlich, daß er schont, nicht! Ungleiche Partie. Der Aristokrat rechnet aber nicht mit gleicher Partie. Ganz und gar nicht. Mag sein, daß ihm wirklich Formales so wichtig ist, mag sein. Aber Peterl\IN{\neuratholga} meint, daß ich mich, wie ich Dir schrieb, nie mit einem Bürgerlichen hätte so weit einlassen dürfen. Es müsse früher oder später zum Krach kommen, wenn man mit einem anderen publizistisch verbunden ist, der so weit absteht. Es ist sicher richtig, daß, wenn Sch\editor{lick}\IN{\schlick} gleiche formale Haltung hätte \textkritik{wie jetzt}\fnA{Hsl. Einschub.}, aber andere Grundgesinnung, er eben mit mir in Kontakt gewesen wäre und irgendeinen einzigen Satz gesagt hätte, der mich zur Zustimmung veranlaßt hätte, während er \gesperrt{nur} sein höheres ästhetisches Urteil zum besten gab. Denn, daß ich zu publizieren wisse, hätte ich oft genug bewiesen, auch daß meine Publikationen nur mit Achtung genannt werden. Wurst \ldots\ er ist er. Hoffentlich findet Frank\IN{\frankphilipp} einen Ausweg. Mir ist all das ekelhaft. Ich bin so auf Frieden mit Euch allen eingestellt. Ich gieße ununterbrochen Gold, um daraus Brücken zu bauen.\fnE{Sprichwörtl.: jemandem eine goldene Brücke bauen und ihm so den Rückzug ohne Gesichtsverlust ermöglichen.} Aber allein kann man das nicht. Vielleicht fällt Euch was ein. Du wolltest mir noch schreiben. Ich suchte Sch\editor{lick}\IN{\schlick} klar zu machen, daß solche Art zu verhandeln einen sehr belaste, daß er ja auch sonst Last ausübe -- denk an Menger\IN{\menger}, der ganz wütend, auch persönlich ist, was ich aber nicht erzählte. Aber er ist sicher davon überzeugt, ein liebenswürdiger, sonniger Mensch zu sein, ich halte ihn mehr für einen Epikuräer, der liebenswürdig ist, weil es sehr bequem ist, aber ohne Bereitwilligkeit zu irgendeiner Art von Gemeinsamkeit. Na ja. Zu viel Affekt. Aber auch ohne Affekt bleibt genug übrig, ein Erdenrest zu tragen peinlich.\fnEE{\labelcn{1930-07-22-Neurath-an-Carnap-Erdenrest}Vgl. Goethe, \textit{Faust. Der Tragödie zweiter Teil}, 359 (Vers 11954ff.).} Wehe, wenn ich sein Privatdozent wäre! Solche ästhetische Überzeugungstreue. Ob er bei sich und seinen Freunden auch immer so streng auf Überzeugungstreue sieht, wenn es sich um weniger ästhetische und mehr reelle Dinge handelt? Ob er da nicht Kompromisse kennt. Gar nicht zu verargen. Aber auf einmal ohne Milde, ohne Kompromiß \ldots\ Ich fürchte, nicht in Eure liebe Nähe kommen \neueseite{}\zzz zu können. Hätte gerne nette soziologische Dinge berichtet, die mich beschäftigen. Jetzt kommt mein Buch dran: Sozialismus als Wirklichkeit. Da brauch ich nicht solchen Ärger zu fürchten. Der Vertrag ist längst da und kein Herausgeber.\fnE{Eine derartige Monographie Neuraths ist nicht erschienen.} Schade, daß Sch\editor{lick}\IN{\schlick} nicht gleich sagte, er wolle nur ein Buch über theoretische Probleme der Soziologie haben, stößeweise liegt das Material da, das ich jetzt für mein großes Buch\IW{} durchsehe. Da gibt es, was das Herz begehrt \ldots \cutcn{Wenn der Artikel\IW{} von Eisen\IN{\eisen} kommen soll,\fnE{Vermutlich ist Walter Eisen gemeint (Briefpartner Neuraths und Autor von \textit{Fritz Mauthners Kritik der Sprache}, 1929); ein entsprechender Artikel konnte nicht eruiert werden.} wäre vielleicht eine soziologische Nummer sehr angezeigt, an der ich mich gerne beteilige. Ohne Affekt und Interjektion. Psychologie und Soziologie würde ich aber gerne in der Psychologienummer ablagern.\fnSE{Plan, eine Arbeit Carnaps über Psychologie und eine Neuraths über Soziologie in einem Heft der \textit{Erkenntnis} gemeinsam zu publizieren; vgl. die Kurzbeschreibung der von beiden im ersten Halbjahr 1930 im Verein Ernst Mach gehaltenen Vorträge in der Chronik in \textit{Erkenntnis} I, 1930/31, S.\,75 bzw. 77. Letztlich wurden Neurath, ,,Soziologie im Physikalismus``, und Carnap, ,,Psychologie in physikalischer Sprache``, jedoch getrennt voneinander publiziert.}\fnE{\labelcn{1930-07-Neurath-an-Carnap-Gemeinsames-Heft}Plan, eine Arbeit Carnaps über Psychologie und eine Neuraths über Soziologie in einem Heft der \textit{Erkenntnis} gemeinsam zu publizieren; vgl. dazu auch die Kurzbeschreibung der von beiden im ersten Halbjahr 1930 im Verein Ernst Mach gehaltenen Vorträge in der Chronik in \textit{Erkenntnis} I, 1930/31, S.\,75 bzw. 77. Letztlich wurden Neurath, ,,Soziologie im Physikalismus``, und Carnap, ,,Psychologie in physikalischer Sprache``, jedoch getrennt voneinander publiziert; vgl. dazu auch unten, Brief Nr.~\refcn{1930-12-20-Neurath-an-Carnap}, \refcn{1932-03-02-Carnap-an-Neurath} und \refcn{1932-10-07-Carnap-an-Neurath}.} Ich stell vieles zusammen. Von mir kommt jetzt ein Besprechungsartikel\IW{} über Ichheiser\IN{\ichheiser}, Kritik des Erfolges\IW{}, und über Niceforo\IN{}, Kultur in Raum und Zeit\IW{}.\fnE{Neurath, \glqq Der Erfolg\grqq\ sowie ders., ,,[Rezension von:] Alfredo Niceforo: Kultur und Fortschritt im Spiegel der Zahlen``.}} Laßt es Euch gut gehn, sammelt goldene Zweige und Stämme zur goldenen Brücke. Schreibt mir. Es tut wohl. Die Wohnung erweist sich als kühl. Es arbeitet sich gut in ihr. Von meiner Frau\IN{\neuratholga} und mir viele Grüße. Auch an Feigl\IN{\feigl}. Von der Grammin\IN{\maue} schreibst Du nichts, nichts vom Kinde, nichts von Roh\IN{\rohfranz} und anderem Weltwesen. Gute Grüße} \grussformel{Dein\\Nth} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/825156}{RC 029-14-12}; Briefkopf: msl. \original{22.~Juli 1930}.}