Ihr Brief vom 29. 4. hat mir schwere Sorgen bereitet. Wir haben ja wohl alle eingesehen, daß es sehr schwer ist, uns auf gemeinsame Formulierungen zu einigen; aber daß nun gleich einer mit dem Austritt droht, auch wenn ich den Artikel Ballein unterzeichnen würde, das sollte doch nach dem Vorangegangenen nicht mehr vorkommen. Wir haben alle den ernstlichen Willen, zusammen zu arbeiten, und müssen uns gegenseitig damit abfinden, daß der andere Dinge sagt, deren Formulierungen uns unrichtig erscheint. Ich habe z. B. nichts dagegen geäußert, daß NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath mich in seinem AufsatzB auf die „Wissenschaftliche Weltauffassung“ festgelegt hat; ich habe eben beschlossen, jedes Mal, wenn Sie „wissenschaftliche Weltauffassung“ sagen darunter „wissenschaftliche Naturphilosophie“ zu verstehen, und nun müssen Sie schon mitmachen und „wissenschaftliche Weltauffassung“ verstehen, wenn ich „wissenschaftliche Naturphilosophie“ sage. Es geht einfach nicht, daß unsere gemeinsame Arbeit an solchen Dingen scheitert.
Wir haben uns hier in Berlin zusammengesetzt und zu ergründen versucht, warum Sie meinen AufsatzB eine Konzession an die Schulphilosophie nennen. Wir fanden im Gegenteil, daß er reichlich scharf gegen die Schulphilosophie auftritt, schärfer, als vielleicht aus diplomatischen Gründen zweckmäßig wäre. Wir vermuten, 🕮 daß Ihre Auffassung daher rührt, daß Sie die Ironie nicht verstanden haben, die in meiner Bemerkung über die Schulphilosophie als Lehre von dem was man nicht weiß liegt.
Wenn ich die Philosophie eine Wissenschaft genannt habe, so meine ich dieses Wort im arbeitstechnischen Sinne. Ich will damit sagen, daß wir mit unsern philosophischen Arbeiten den Anspruch auf Verbindlichkeit für alle machen, daß wir die Berechtigung philosophischer „Standpunkte“ nicht anerkennen, und daß es eine außerwissenschaftliche Erkenntnis, wie die Metaphysiker meinen, in der Philosophie nicht gibt. Das sind doch alles Dinge, über die wir uns einig sind und ich finde, daß sie durch die positive Formel „Philosophie ist Wissenschaft“ viel besser ausgedrückt werden, als durch die negative „Philosophie ist keine Metaphysik“. Wenn Sie nun in Wien die Ansicht entwickelt haben, daß Philosophie keine Wissenschaft ist, sondern eine Tätigkeit, so finde ich diese Auffassung unter logischen Gesichtspunkten sehr interessant; ich kann das zwar ebensowenig wie meine hiesigen Freunde ganz und gar nicht für richtig halten, aber ich finde, daß diese Auffassung einer ausführlichen Diskussion bedarf und ich würde es sehr begrüßen, wenn diese Diskussion in unserer ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift geführt würde. Ich muß es aber für ganz ungeeignet halten, diese Auffassung in das Programm der Zeitschrift zu setzen. Abgesehen davon, daß es sich hier doch nur um eine mehr spezielle Auffassung Ihres Wiener KreisesISchlick-Zirkel, Wiener Kreis handelt, die man unmöglich von dem weiten Mitarbeiterkreis einer Zeitschrift voraussetzen kann, halte ich auch die Außenwirkung einer solchen Formulierung für sehr ungünstig. Man würde darin nichts als eine Bestätigung jener „allgemeinen Relativitätstheorie“ sehen, wonach es in der Philosophie keine objek🕮tive Erkenntnis gibt, sondern lauter widersprechende aber gleich berechtigte Standpunkte. Ich weiß, daß das natürlich nicht Ihre Wiener Auffassung ist, aber wirken würde Ihre Formulierung in diesem Sinne.
Ich möchte Ihnen nun folgenden Vorschlag machen. Wir nehmen meinen AufsatzB als Eröffnungsaufsatz; ich bin dabei zu redaktionellen Änderungen, die Sie mir vorschlagen, gern bereit, will die Stelle mit der Lehre von dem was man nicht weiß, verdeutlichen und die Philosophie als Wissenschaft im arbeitstechnischen Sinne bezeichnen. Unser Programm muß ein Arbeitsprogramm sein, und nicht das durch eine spezialisierte Terminologie mißverständliche Programm einer bestimmten philosophischen Richtung. Ich würde es aber sehr begrüßen, wenn gleich unser erstes Heft eine längere wissenschaftliche Untersuchung über die Möglichkeiten der Philosophie bringen würde und ich würde mich ganz besonders freuen, wenn Herr SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick selbst diese Darstellung schreiben würde. Auf diese Weise sind Sie vor einer falschen Deutung Ihres Wiener Standpunktes, etwa hervorgerufen durch mein Eröffnungsaufsatz, bewahrt. Den Eröffnungsaufsatz würde ich allein unterzeichnen.
Es ist sehr schade, daß Sie mir von Herrn SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Reise nach Frankfurt nichts geschrieben haben. Ich hätte sonst den Vorschlag gemacht, daß man sich irgendwo trifft, z. B. in Leipzig, und ich bin überzeugt, daß eine mündliche Aussprache die Schwierigkeiten des gegenseitigen Verständnisses sämtlich behoben hätte (Induktionsschluß aus meinen Besprechungen mit NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath und mit Ihnen).
Sie schreiben, daß ich an SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick wegen eines Beitrags schreiben wollte. Ich hatte gemeint, Sie hatten es übernommen, mit SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick darüber zu sprechen; aber jetzt wo Sie es schreiben, fällt 🕮 mir ein, daß Sie recht haben. Es wäre sehr schön, wenn die von mir vorgeschlagene Darstellung Ihrer Wiener Auffassung von Philosophie zu diesem Beitrag würde. Nachdem Herr SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick jetzt wieder in Wien ist, ist es wohl nicht mehr nötig, daß ich ihm noch besonders schreibe und ich darf Sie vielleicht bitten, meine Briefe stets Herrn SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick zu zeigen.
Den Titelblattentwurf haben Sie wohl von MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger erhalten, es ist also noch der Name von Herrn SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick nach vor zu stellen, außerdem soll es heißen „im Auftrage der Gesellschaft usw.“ nicht „unter Mitwirkung…“
Mit den besten Grüßen an Sie und Herrn SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick bin ich